SRF 2 Kultur, 17. Februar 2017

Geplagtes Wunderkind

Ein Feature zum hundertsten Geburtstag von Carson McCullers

Das Jahr 2017 bringt ein Doppeljubiläum der US-amerikanischen Schriftstellerin Carson McCullers: den 100. Geburtstag im Februar, gefolgt vom 50. Todestag im September. Ihres Hundertsten gedachte eine Reihe von Sendern – die aber alle auf eine Neuproduktion verzichteten und stattdessen ein vor zehn Jahren erstgesendetes Feature erneut ins Programm nahmen. Dies aber aus gutem Grund: Da wurde ein stimmungsvolles Hörbild mit attraktiven Sprechern aus dem Archiv geholt.

Carson McCullers, die als Lula Carson Smith am 19. Februar 1917 in Columbus, Georgia, geboren wurde, ist noch ein Kind, als sie bereits von Krankheiten geplagt wird. Ein schweres rheumatisches Fieber wird von Ärzten nicht richtig diagnostiziert. Auch in der Zeit danach und über ihr ganzes Leben muss sie immer wieder für längere Zeit das Bett hüten. Als junge Frau ist Carson Medizinern ein Rätsel, weil sie schon sehr früh Schlaganfälle erleidet – den ersten im Alter von nur 24 Jahren. 

Vom Klavier zur Feder

Carson ist als Kind außergewöhnlich musikalisch talentiert. Die schwere Erkrankung mit 15 Jahren im Winter 1932 verhindert die Karriere als Konzertpianistin. Sie beginnt zu schreiben. „Eine große Pianistin ging verloren, aber eine größere Schriftstellerin wurde geboren.“ So drückt es, in einem längeren Zitat in diesem Feature, Tennessee Williams aus, mit dem sie später eine enge Freundschaft pflegt. In New York belegt Carson Kurse für kreatives Schreiben. Ihre erste veröffentlichte Geschichte, „Wunderkind“ (so der Titel im Original), erscheint 1936 in der Literaturzeitschrift „Story“. Sie beschreibt das Elend der Erkenntnis um die eigene Unzulänglichkeit: Ein junges Mädchen muss eines Nachmittags bei ihrem Klavierlehrer erkennen, das sie niemals eine Virtuosin wird. 
Mit 18 lernt Carson Smith den aus Alabama stammenden, ein paar Jahre älteren Reeves McCullers kennen, der damals noch für kurze Zeit in der Armee dient. 1937 heiraten die beiden.

Erster literarischer Erfolg

Durch eine ihrer Lehrerinnen für kreatives Schreiben, Sylvia Chatfield Bates, erfährt Carson von einem Wettbewerb des Verlags Houghton Mifflin für einen Erstlingsroman. Carson reicht ein Exposé für ein Werk ein, das „Der Stumme“ heißen soll. Zwar gewinnt sie den Preis nicht, der Verlag aber bietet ihr einen Vertrag an. Sie schreibt weiter, und 1940 erscheint ihr Debütroman unter dem Titel „Das Herz ist ein einsamer Jäger“, der ihr vom Verlag vorgeschlagen wurde. Es ist die Geschichte eines Taubstummen, der Vertrauensperson für eine Reihe von Menschen seiner Umgebung wird. Der Roman wird ein Erfolg und die junge Autorin mit nur 23 ein Star der Literaturszene.

Flucht aus der Ehe

Carsons Ehe erweist sich als schwierig und konfliktreich. Reeves will auch Schriftsteller werden, er kommt aber über Vorhaben und Pläne nie hinaus, anders als seine Frau bleibt er ohne Erfolg, wird Alkoholiker. „Das Verlorene in Reeves McCullers erkannte ich erst, als es viel zu spät war, ihn oder mich zu retten“, zitiert das Feature aus Carsons Autobiographie
Mit der Absicht, sich von Reeves zu trennen, mietet Carson gemeinsam mit W.H. Auden ein großes Haus in Brooklyn, in dem sie vier Jahre bleiben wird. Eine Künstlerkommune mit ständigen Gästen wie Salvador Dalí, John Steinbeck, Benjamin Britten oder Klaus Mann. 1941 lässt Carson sich scheiden und Reeves geht zurück in die Armee.

Produktiv und erfolgreich

Bereits 1941 erscheint Carsons zweiter Roman, den sie unmittelbar nach Beenden von „Das Herz …“ begonnen hatte: „Spiegelbild im goldenen Auge“. Schauplatz ist eine Festungsgarnison in Friedenszeiten in den US-Südstaaten. In einer schwülen Atmosphäre von Anziehung, Begehren, Ablehnung und unterdrückter Homosexualität geschieht ein Mord. Die Autorin dieses Features, Manuela Reichart: „Es geht um die Norm und die Abweichung, um innere Leere und äußere Disziplin.“
1943 erscheint Carson McCullers’ wohl bekannteste Erzählung „Die Ballade vom traurigen Café“. In den Worten von Manuela Reichart „die Geschichte einer unmöglichen Liebe, die aus einer herrischen und kalten Südstaaten-Amazone eine verletzte Seele macht, denn der, den sie liebt, ein verwachsener Zwerg, wird den lieben, den sie hasst, der einst jedoch sie liebte.“ Reichart zitiert auch McCullers’ US-amerikanische Kollegin (und Freundin) Kay Boyle (1902-1992), die an der „Ballade“ den „kühnen objektiven Grundton“ und das „Gespür für Proportionen“ bewunderte. 

Wiederannäherung an Reeves und erneute Heirat 

Während Reeves McCullers’ neuerlicher Zeit in der Armee beginnt ein intensiver Briefwechsel zwischen ihm und Carson, der insbesondere die Zeit von Reeves’ Kriegseinsatz in Europa im Zweiten Weltkrieg umfasst. 1945, nach seiner Rückkehr, heiraten Carson und Reeves zum zweiten Mal. Aus gesundheitlichen Gründen wird Reeves 1946 aus der Armee entlassen. 
Im gleichen Jahr erscheint der größte Romanerfolg von Carson McCullers, „The Member of the wedding“ (in der deutschen Übersetzung anfangs „Das Mädchen Frankie“, später nur noch „Frankie“): Der ältere Bruder der zwölfjährigen Frankie Addams wird heiraten. Um ihrer Isolation zu entgehen, möchte sie „member“, Mitglied von Hochzeit und Ehe des Bruders werden. 
Von allen Figuren im Werk von Carson McCullers sei nach Einschätzung ihrer Familie und ihrer Freunde Frankie Addams diejenige, die Carson am meisten gleiche, wird im Feature Margarita Smith, Carsons jüngere Schwester und Nachlassverwalterin, zitiert. Und die Schriftstellerin Margaret Young findet: „Das ganze Buch ist eine Diskussion über das Glück.“ In „Frankie“ wird ein weibliches Gegenstück zu Salingers „Der Fänger im Roggen“ gesehen. Der Titel dieses Features, „Jeden Nachmittag schien die Welt zu sterben“, ist den ersten Sätzen von „Frankie“ entnommen.

Schicksals- und andere Rückschläge

Carson und Reeves reisen nach Europa. 1947 erleidet die Erfolgsautorin in Paris einen weiteren, schweren Schlaganfall, der ihr Sehvermögen auf dem rechten Auge zerstört und ihre linke Körperseite lähmt. Die folgende Zeit in den USA ist von ihren gesundheitlichen Problemen geprägt, zu einem Höhepunkt immerhin wird die Anfang 1950 erstaufgeführte Bühnenfassung von „The Member of the Wedding“, die über ein Jahr erfolgreich am Broadway läuft. 
1952 beschließen Carson und Reeves in Frankreich zu leben, sie kaufen ein Haus in der Nähe von Paris. Carson trennt sich 1953 von neuem und flüchtet wegen Reeves’ Vorschlag eines gemeinsamen Selbstmords im Sommer zurück in die USA. Reeves bringt sich im November 1953 in einem Pariser Hotel um. Später beabsichtigt sie, in ihre (schließlich nicht mehr vollendete) Autobiographie ihren Briefwechsel mit Reeves während dessen Kriegseinsatz in Europa 1944-45 aufzunehmen, um ihm ein Denkmal zu setzen. 

Die kommenden Jahre bleiben für Carson sehr schwierig. Ihre Mutter stirbt 1955, ein neuer Roman kommt nicht voran, die Premiere ihres neuen Theaterstücks „The Square Root of Wonderful“ im Herbst 1957 wird zum Desaster. 1958 führen Krankheit und Depression zu einer schweren Krise. Enge Freundschaften sind ihr eine Stütze, sie unternimmt Reisen mit Tennessee Williams, Truman Capote und Marguerite Yourcenar. Auch trifft sie 1959 die von ihr bewunderte dänische Schriftstellerin Tania Blixen. 

Letzte Werke – gesundheitlicher Verfall

Als Carson McCullers’ Roman „Uhr ohne Zeiger“ 1961 erscheint, hat sie ihre Depression überwunden, war an Armen und Handgelenk operiert worden, weitere Eingriffe stehen bevor.  In diesem letzten ihrer vier Romane stehen vier Einzelschicksale im Mittelpunkt, Menschen,  die unterschiedlichen Generationen angehören: Der krebskranke Apotheker J.T. Malone, sein Freund Richter Clane, dessen 18-jähriger Enkel Jester und der gleichaltrige farbige Waise Sherman. Die Entdeckung eines alten Geheimnisses wird Auslöser eines Dramas.
Von ganz anderer Art sind von Carson verfasste Kindergedichte, die unter dem Titel „Sweet as a Pickle and Clean as a Pig“ 1964 erscheinen. Die Schriftstellerin Eva Demski, eine große McCullers-Bewunderin, die im O-Ton an verschiedener Stelle in diesem Feature zu hören ist, hat die Gedichte ins Deutsche übertragen (Buchtitel „Süß wie ‘ne Gurke und rein wie ein Schwein“) und zitiert in der Sendung daraus. Sie sieht in den Gedichten einen Kontrapunkt zu McCullers’ Verfassung, die Autorin habe sich „spielerisch in der Sprache gehen lassen, und deswegen hat mir das so gut gefallen.“

Die letzten Jahre ihres Lebens ist Carson ans Bett gefesselt. Sogar schreiben kann sie nicht mehr allein. Nach einem weiteren Schlaganfall im August 1967 erlangt sie das Bewusstsein nicht wieder. Carson McCullers stirbt nur 50-jährig am 29. September 1967 in Nyack in der Nähe von New York, wo sie seit 1944, anfangs mit ihrer Mutter, ein Haus bewohnte. Ihre unvollendet gebliebene Autobiographie, an der sie in ihrem Todesjahr arbeitet, kann sie nur noch diktieren. 

Wahr oder Legende?

Carsons Lebensgeschichte erzählt das Feature nicht geradlinig chronologisch. Stellenweise wird bei ihrer Krankheitsgeschichte oder dem Verlauf ihrer Beziehung zu Reeves stehengeblieben und dann auch vorgegriffen. 
Überhaupt ist es bei der Betrachtung dieses Lebens offenbar nicht einfach, Wahres und Legendenhaftes auseinanderzuhalten. Das wusste auch Carsons guter Freund Tennessee Williams, der – im Feature zitiert – etwa von den Legenden spricht, die ihre erste Zeit in New York umgeben. Eine, die es wissen muss, Carsons jüngere Schwester und Nachlassverwalterin Margarita Smith, ist mit folgenden Worten in der Sendung zu hören: „Carson sah ihr Leben auf ihre Art an, und die mit ihr Vertrauten verstanden es oft anders. Absichtlich oder unabsichtlich trug sie selber zu der Verwirrung bei. […] Sie verschönte oft die amüsanteren Tatsachen aus ihrem Leben.“ 

Das Feature zitiert ausgiebig aus der Autobiographie und den Hauptwerken von Carson McCullers: neben den vier Romanen aus der Erzählung „Die Ballade vom traurigen Café“, aber auch der frühen Geschichte „Wunderkind“ und den von Eva Demski übertragenen Gedichten. Und es erwählt sich mit den ersten beiden Sätzen aus McCullers’ letztem Roman „Uhr ohne Zeiger“ ein Leitmotiv: „Der Tod bleibt sich immer gleich. Doch jeder Mensch stirbt seinen eigenen Tod.“ Es ist zu Beginn wie am Ende zu hören, und nocheinmal etwas länger, wenn der Roman im Feature behandelt wird. Ebenfalls leitmotivisch, um sozusagen „Südstaaten-Atmosphäre“ zu erzeugen, erklingt ein mir unbekannter Song zu Beginn und wieder am Ende der Sendung – und mittendrin auch mal das berühmte „Georgia On My Mind“, hier gesungen von Billie Holiday. Sehr schön auch Carson McCullers’ dunkel angehauchte Stimme im Originalton, zu hören mit Passagen aus den Werken, wenn sie auch, wohl bedingt durch Carsons zum Zeitpunkt der Aufnahme (vermutlich 1958) bereits schlechten Gesundheitszustand, ein wenig mühselig und schleppend klingt.

Kennzeichen des Werks

„Der Schauplatz meiner Bücher wird stets der Süden und der Süden stets meine Heimat sein“, wird Carson McCullers in der Sendung zitiert. „Ein Schriftsteller aus dem Süden […] ist stets an diesen eigentümlichen Regionalismus der Sprache und der Stimmen und des Blattwerks und der Erinnerung gebunden.“ 
Manuela Reichart nennt weitere Charakteristika von McCullers’ Werk, zunächst ihre Motive: „Der Fluch des Südens. Rassenhass und dessen Überwindung. Lebenslügen und Enttäuschungen, Traurigkeit und Einsamkeit, Verlierer und Scheiternde, die Angst der Jugend und die des Alters, Krankheit und Tod, Liebe und Leidenschaft, kindliche Hoffnungen und unerfüllbare Sehnsüchte.“ Und auch das Personal in Carson McCullers’ Werken, eine Zusammenstellung, aus der deutlich wird, dass es sich um gesellschaftliche Außenseiter handelt: „Ein taubstummer Homosexueller. Ein verzweifelter schwarzer Arzt. Seine ganz und gar zufriedene bildungsferne Tochter. Ein trunkener Weltverbesserer, ein trauriger Ehemann, eine unverstandene dumme und eine unverstandene empfindsame Frau, ein homosexueller Hauptmann, weiße Alkoholikerinnen und kluge schwarze Köchinnen, eine Komponistin, die sich ihre Biographie zurechtlügt, ein junges Mädchen, das von Musik träumt und ein anderes, das sich, krank, nach Zuwendung und Gesundheit sehnt. Ein ausgeschriebener Schriftsteller, ein verwachsener Zwerg, eine maskuline reiche Schnapsbrennerin in einem verschlafenen Dorf im Süden.“ 
Nocheinmal die Schriftstellerin, zitiert im Feature: „Seelische Isolierung ist die Basis der meisten meiner Themen. Mein erstes Buch handelt fast ausschließlich davon und seither mehr oder weniger auch alle meine anderen Bücher. Liebe, und besonders die Liebe zu einem Menschen, der unfähig ist, sie zu erwidern oder zu em­pfangen, bildet den Kern meiner Auswahl grotesker Gestalten, über die ich schreibe. Menschen, deren körperliche Behinderung ein Symbol für ihre seelische Behinderung ist, zu lieben oder Liebe zu empfangen. Daher ihre seelische Isolierung.“ 

Neben den bereits Genannten werden weitere McCullers-Bewunderer und Kenner zitiert: die 1930 geborene irische Schriftstellerin Edna O’Brien, Carsons Übersetzerin Elisabeth Schnack, die von ihrer ersten Begegnung mit der bereits von Krankheiten gezeichneten Autorin im Jahr 1962 in deren Haus in Nyack erzählt, und – ja – Nobelpreisträger Heinrich Böll, wenn auch nur mit einem Buchdeckel-Text.
Nicht alles kann in einer einstündigen Sendung zur Sprache kommen. Dass aber Carsons Hingezogenheit zu Frauen, ihre Bisexualität, nicht thematisiert wird, ist doch erstaunlich. Immerhin wird ihr Verhältnis zu Annemarie Schwarzenbach, der Carson McCullers ihren zweiten Roman „Spiegelbild im goldenen Auge“ widmete, in einer eigenen Sendung behandelt. 

Wer liest denn heute noch Carson McCullers, wird Manuela Reichart, wie sie in ihrer Sendung erzählt, im Lauf ihrer Recherche gefragt. Gründe, die dafür sprechen, liefert das Feature in reichem Maß. Weitere noch von Eva Demski als Schlusswort: „Wenn ich ein Plädoyer halten sollte, […] würde ich sagen, dass man nicht leicht so viel Dramatik in einer so wunderbar trockenen und konzisen Form finden kann wie bei ihr, in einer wirklich makellosen Sprache. Eine Sprache, an der kein Gramm Fett und kein Gramm Schminke klebt, […] eine vollkommen schlackenfreie, wunderbare zeitlose Sprache“. 

Für den Download der Sendung bei SRF 2 Kultur ist keine Befristung angegeben (Stand 21.3.2017).

Weiterlesen: 
- Carson McCullers’ Lebenslauf (New Georgia Encyclopedia) – verfasst von Carlos Dews, dem Herausgeber der Autobiographie.
- Carson’s Literary Crowd (oprah.com) – mit einigen Fotos.
- Deutschlandfunk Büchermarkt: eine Sendung aus dem Jahr 2012 zu einer Neuausgabe von Carson McCullers’ vier Romanen und mit einem Blick auf die Autobiographie.
- Die reich bebilderte Autobiographie (Schöffling; Taschenbuch-Ausgabe Diogenes), die mit einer gut 25-seitigen Chronologie von McCullers’ Leben die biographischen Angaben dieses Features ausführlich ergänzt.

„Jeden Nachmittag schien die Welt zu sterben“

Die Südstaaten-Autorin Carson McCullers

Von Manuela Reichart
Im O-Ton: Eva Demski
Sprecherinnen: Manuela Reichart (Erzählerin), Corinna Kirchhoff und Susanne Lothar (McCullers-Zitate); Ingrid Andree, Ulrich Matthes
Regie: Manuela Reichart
WDR 2007

SRF 2 Kultur, Reihe: Passage
17. Februar 2017, 20.00 Uhr, 60 min.