„Kalabrien. Ndrangheta-Land. Die Mafia-Organisation beherrscht Wirtschaft, Politik, selbst das Denken und den Alltag der Menschen.“ Die regelmäßige Radio-Autorin Aureliana Sorrento, selbst aus Reggio Calabria stammend, besucht ihre Heimat-Region und begibt sich auf die Spur der kalabresischen Mafia, ihres Einflusses innerhalb der Gesellschaft. Sie trifft Menschen, die der Macht der Ndrangheta widerstehen.
Ein Priester erzählt
Don Giacomo Panizza, Priester in der 70.000-Einwohner-Stadt Lamezia Terme, betreibt das „Progetto Sud“, ein Netzwerk von sozialen Projekten – unter anderem in einem beschlagnahmten Haus, das früher der Ndrangheta gehörte. Nicht einmal Obdachlose oder Roma hatten sich getraut, in die beschlagnahmten Häuser einzuziehen. Auch Don Giacomo, der in Lamezia Terme eine Behinderten-Werkstatt aufgebaut hatte, bekam nach der Eröffnung einer Kupferwerkstatt Besuch von der Ndrangheta, die Schutzgeld [pizzo] forderte. Er sagte nein und wurde eingeschüchtert, auf zwei seiner Mitbewohner wurde ein Attentat verübt. „Die Leute hier leben mit der Ndrangheta im Nacken“, sagt der Geistliche. „Der Mafioso hilft den Menschen und bindet sie so an sich. Das Problem ist nicht nur, dass er einen bedroht, sondern auch, dass er einem mal einen Gefallen getan, mal Geld geliehen hat, wenn man sich in einer Notlage befand. Das soll heißen: ,Wir sind da und sorgen für dich.‘ Diese Verwicklungen sind das eigentliche Problem.“ Unter den Armen rekrutiere die Ndrangheta ihr Fußvolk.
Don Giacomo weiß auch von Einflüssen bis in die Politik: Der Gemeinderat sei zweimal aufgelöst worden, „weil er von der Ndrangheta infiltriert war. Keiner traute sich, die Bosse vor den Kopf zu stoßen. […] Das Problem sind nicht nur die Mafiosi, sondern diese mafiöse Mentalität. Das Problem sind auch die Unterstützer der Mafiosi, die nach deren Anweisungen wählen.“
Bauunternehmer erstattet Anzeige
Der Bauunternehmer Gaetano Saffioti trägt eine Pistole und wird 24 Stunden am Tag von der Polizei bewacht. Vor zwölfeinhalb Jahren hat er Anzeige erstattet. Durch die Lieferung von Baumaterial war er mit Forderungen von zwei Clans konfrontiert worden. Ein gegen die Ndrangheta engagiert vorgehender Richter erklärte Gaetano schließlich, der Staat würde ihm beistehen, wenn er bereit wäre, Anzeige zu erstatten. Er müsste dann aber in den Personenschutz und mit seiner Familie Kalabrien normalerweise verlassen. Nach seiner Anzeige wurde der Unternehmer ausgegrenzt, seine Mitarbeiter kündigten, alle Aufträge wurden storniert, seine Brüder reden bis heute nicht mit ihm. 50 Personen wurden nach seiner Aussage verhaftet. Wie die italienische Justiz dann aber funktioniert, erklärt Gaetano an seinem Beispiel: Bei Wahl eines kurzen Verfahrens, Einlegen von Berufung seitens der Mafiosi und guter Führung blieben von laut Urteil 18 Jahren Gefängnis gerade mal fünf. Die Ndrangheta machte ihm „Geschenke“, wie zum Beispiel angezündete Bagger. Dazu kamen Morddrohungen.
Gaetano Saffioti machte die Erfahrung, dass ihn die Ndrangheta bis nach Norditalien und sogar bei einem Auftrag in Paris verfolgte, wo sie seine Leute bedrohte. Er bleibt in Kalabrien, weil er in seinen Worten einen „Krieg gegen das System“ führe. Er wolle die Ndrangheta-Unterstützer aus Staat, Gesellschaft und Kirche bloßstellen. Einen anderen Unternehmer habe er davon überzeugt, dass dieser seine Erpresser anzeigt – sofern Gaetano bereit ist, dem anderen beizustehen.
Ladenbetreiber verweigert Schutzgeld
Tiberio Bentivoglio aus Reggio Calabria verkauft in seinem Ladengeschäft unter anderem Arzneimittel und Sanitätsprodukte. Er erzählt Aureliana Sorrento, wie er 2011 angeschossen wurde, nachdem von ihm angezeigte Mafiosi wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verurteilt worden waren. Seitdem fährt er ein gepanzertes Auto und lebt unter Personenschutz.
Als Tiberio vor Jahrzehnten mit seiner Frau sein Geschäft eröffnete, herrschte Krieg zwischen Ndrangheta-Clans. Nach dem „Friedensschluss“ 1991 teilten sie die Stadt zwischen sich auf. Nach Eröffnung eines neuen Ladens weigerte sich das Ehepaar Bentivoglio, Schutzgeld zu zahlen. „Hier zahlt man Schutzgeld von der Wiege bis zum Grab“, sagt Tiberio. „Auch bei einer Beerdigung muss man sich an den Leichenbestatter seines Viertels wenden, der mit dem lokalen Clan verbandelt ist.“ Anschläge gegen ihn begannen 1992, 2003 explodierte eine Bombe in seinem Geschäft. Niemand stand ihm bei. „Damals habe ich verstanden, dass in dieser Stadt das Schweigegebot stärker ist als alles andere.“ Zwei Jahre später brannte sein Geschäft erneut. Eine Entschädigung bekam Tiberio erst vier Jahre nach dem Brand, der sein Geschäft zerstörte. „Ich werde den Laden bald aufgeben. Ich kann die Schulden nicht mehr abtragen. […] Die Banken geben mir keinen Kredit mehr. […] Niemand kümmert sich um die Familienunternehmen oder kleine Läden, die dicht machen müssen, weil sie ins Visier von Mafiosi geraten sind.“
Kirchendiener und die Ndrangheta
Probleme bekam Tiberio sogar, als er einen Kulturverein gründen wollte. Auch dies ging nicht ohne die Ndrangheta. Weil sich dank eines von der Polizei abgehörten Telefongesprächs eine Verwicklung von Politik und Ndrangheta mit einem Kirchenmann herausstellte, kam es darüber zu einem Gerichtsverfahren. Als 2014 nach über drei Jahren ein Urteil gefällt wurde, waren alle Straftaten verjährt. „Der angeklagte Priester, der mithilfe der Ndrangheta meinen Kulturverein verhindern wollte, hat das Urteil mit einem großen Fest gefeiert.“ Obwohl nicht freigesprochen, wurde der Priester, so die Entscheidung des Bischofs, seines Amtes nicht enthoben.
Tiberio weiß, dass die Ndrangheta immer enge Verbindungen zu Priestern hatte. Auch Gaetano Saffioti hat damit seine Erfahrungen gemacht: Für die Planierung eines Bauplatzes wollte er – da ja nun aller Aufträge ledig – gratis arbeiten. Weil es um ein Altenwohnheim ging, war der Pfarrer dafür verantwortlich. Beauftragt wurde schließlich ein Clan, der eine Baufirma betrieb, bezahlt vom Pfarrer.
Don Giacomo Panizza hält die kollektive Exkommunikation der Ndrangheta durch den Papst für richtig – auch als Signal an die Priester.
Von Aureliana Sorrento wurde unter anderem gesendet: „Rebellion für Recht und Ordnung. Italien und die Fünf-Sterne-Bewegung“ (2016) sowie „Vorkehrungen gegen den kommenden Aufstand. Militarisierung für den Wohlstand“ (2014; Manuskript).
Zitate in diesem Text nach dem Sendungs-Manuskript.