Nordwestradio, 28. August 2016

Trauma der Bremer Justiz

Der Mordfall Carmen Kampa – aus Anlass der Verleihung des Axel-Eggebrecht-Preises an Margot Overath

Herzlichen Glückwunsch an die Feature-Autorin Margot Overath, die in diesem Jahr mit dem Axel-Eggebrecht-Preis ausgezeichnet wird. Aus diesem Anlass wiederholte das Nordwestradio laut Ansage zur Sendung „eine ihrer herausragenden Produktionen für Radio Bremen“, die sich 1995 im Abstand von rund 20 Jahren mit einem damals bundesweit Aufsehen erregenden, unaufgeklärt gebliebenen Mordfall befasste. In zwei Prozessen wurde ein Tatverdächtiger zunächst schuldig, dann freigesprochen. 40 Jahre nach der Tat, im Jahr 2011, galt der Fall als gelöst.

Der Mord

Auf dem Gelände um den Bremer Vorortbahnhof Oslebshausen wurde am späten Abend des 1. Mai 1971, einem Samstag, die 17-jährige Carmen Kampa brutal geschlagen, vergewaltigt, erwürgt, und auf das bereits tote Opfer noch mehrmals eingestochen. Der oder die Täter entkamen. Erst nach zweieinhalb Tagen wurde Carmens Leiche im Gestrüpp des Bahndamms von Polizisten gefunden. Der Gerichtsarzt Jobst von Karger erkannte, so seine Erinnerung für das Feature, auf „Tötung im Zusammenhang mit gewaltsamem Geschlechtsverkehr.“
Am Abend des 1. Mai 1971 war Carmen zum Tanzen in der Oslebshauser Diskothek „Miramichi“, die sie gegen 23.00 Uhr verließ, um den Zug 23.26 Uhr nach Hause zu nehmen. Offenbar wurde sie von ihrem Mörder verfolgt. Fahrgäste aus dem am Bahnhof haltenden Zug wurden Zeugen, wie das Mädchen bedrängt wurde und schrie. Einer der Zuginsassen öffnete das Fenster. „Bitte nicht“, ist Carmen Kampa zu hören, da fuhr der Zug bereits wieder ab. Keiner der Fahrgäste kam auf den Gedanken, zu Hilfe zu eilen oder die Notbremse zu ziehen. Als beim nächsten Halt der Schaffner die Bahnpolizei verständigte, hatte der Täter sein Opfer bereits von der Stelle des Angriffs 100 Meter weit weg in schwerer zugängliches Gestrüpp gebracht. Streifenwagen, die mit Suchscheinwerfern kurz darauf das Gebiet absuchten, fanden nichts. Margot Overath: „Vieles sprach dafür, dass es einen zweiten Täter gab.“ Es fehlten Schleifspuren, Carmen wurde offenbar vom Tatort weggetragen. [In einer Zeitungsanzeige vom August 1971 verbreitete die Staatsanwaltschaft zwei Täterbeschreibungen.]
Die Meldung über den Fund der Leiche kam am 4. Mai 1971 ins Radio und einen Tag später in die Zeitungen. Die Bevölkerung bzw. die Augenzeugen aus dem Zug wurden um Mithilfe bei der Ermittlung des Täters gebeten. Von diesem konnte nur die Kleidung genauer beschrieben werden – dunkler Anzug und weißer Rollkragenpullover, ein damals gern getragenes Kleidungsstück, als Partypullover bezeichnet. Das Gesicht des Täters hatte keiner gesehen, Angaben wurden nur zu dessen Frisur gemacht.

Ein dringend Tatverdächtiger

Am 6. Mai 1971 erging an die Kripo ein erster anonymer Hinweis auf einen 37-jährigen Mann namens H. Dieser H. war im „Miramichi“ bekannt, er jobbte dort gelegentlich als Aushilfskellner. H., der junge Mädchen bevorzugte, hatte bereits wegen einer versuchten und einer begangenen Vergewaltigung vor Gericht gestanden, verurteilt wurde er nicht. Er war damals wegen schweren Diebstahls mehrfach vorbestraft und wieder einmal zur Fahndung ausgeschrieben. Im Juli 1971 aufgespürt, wurde H. erstmals im darauffolgenden Monat vernommen.
Der damalige Kriminalhauptwachtmeister Ernst Lange erzählt für das Feature von den Vernehmungen des tatverdächtigen H., den er als „aalglatt“ bezeichnet. Schon vor der Vernehmung hatten Lange und sein Kollege Weinrich eine Reihe von Indizien zusammengetragen, die H. schwer belasteten. Dieser war am Abend des 1. Mai 1971 Gast der Diskothek „Miramichi“ und soll Carmen Kampa per Handschlag begrüßt und beobachtet haben. Zeugen sagten aus, dass H. Carmen, nachdem sie das Tanzlokal verlassen hatte, gefolgt sei. Auf einem Gefangenentransport offenbarte H. gegenüber einem Mitgefangenen Details, die, so Lange, „nur der Täter wissen konnte.“ Außerdem war H. ohne Alibi für den Tatabend: Er erzählte seinen Vernehmern eine Geschichte, weshalb er im Pkw übernachtet habe, „das haben wir alles widerlegt“ (Lange). Ermittelt wurde auch, dass H. schon drei Tage nach dem Mord an Carmen Anzüge in die Reinigung gebracht hatte. Ein Messer, das H. normalerweise bei sich trug, hatte er nach dem 1. Mai 1971 nicht mehr. Das fiel, so Lange, in H.s Bekanntenkreis auf, ebenso wie eine „verräterische Bemerkung“ von H. über den Mörder von Carmen. Ernst Lange und sein Kollege Weinrich waren überzeugt, mit H. Carmen Kampas Mörder ermittelt zu haben. H. aber erwies sich, so Overath, als „Profi, was Durchhaltevermögen im Polizeiverhör angeht“ und bestritt alle Anschuldigungen.

Ende 1971 blieben in der Mordsache Kampa von über tausend angelegten Spurenakten zwei heiße Spuren, davon die Spurenakte 59 zu dem Hauptverdächtigen H. Ernst Lange, der mit dieser Akte befasst war, ging am 1. Juli 1972 zur Kommissarausbildung nach Münster. Am selben Tag wechselte die Zuständigkeit für den Fall zu Oberstaatsanwalt Hans Janknecht, dem Spurenakte 59 nicht mehr vorgelegt wurde. Sie kam in den Aktenschrank. Der letzte Eintrag darin – in resignierendem Ton – stammte vom 10. August 1972. Es wurde sozusagen eingestanden, dass die Schläue des Verdächtigen H. weitere Ermittlungen gegen ihn vereitele.

Ein anderer Verdächtiger wird identifiziert

Die zweite „heiße Spur“, Spurenakte 407, lenkte den Verdacht auf einen im Jahr 1971 noch nicht identifizierten Mann. Laut Aussage der Wirtin der nicht weit vom Tatort gelegenen Oslebshauser Gaststätte „Zum Bahnhof“ hatte am Abend des 1. Mai 1971 ein Gast in dunklem Anzug und weißem Partypullover eine Zeche geprellt. Erst zwei Jahre später, im Mai 1973, wurde der Bauarbeiter Otto Becker als dieser Zechpreller identifiziert. Als Tatverdächtiger erwies sich der Mittdreißiger kooperativ, aber nicht geständig. Er war alkoholabhängig, als Autodieb vorbestraft, und er besaß ein – wenn auch defektes – Klappmesser. Der homosexuelle Becker war sicher, der Verdacht gegen ihn würde sich rasch als Irrtum aufklären. Er beteuert – O-Ton im Feature –, ein Mädchen habe ihn noch nie sexuell erregt. Erstmals am 4. Juni 1973 wurde Otto Becker vernommen.
In dieser ersten Vernehmung räumte Becker, der zwei Jahre nach dem Kampa-Mord kein Alibi für die Tatzeit vorweisen konnte, die Möglichkeit ein, dass er am Abend des 1. Mai 1971 Kleidung entsprechend der Täterbeschreibung getragen habe – einen dunklen Anzug oder Blazer, gängige Ausgehkleidung für ihn wie für viele Andere. Die Kripobeamten waren freundlich, begannen ihn zu duzen. Der Verdächtige stimmte zu, dass Fotos von ihm in den Zeitungen veröffentlicht würden – im Glauben, dies würde zur Aufklärung, also zu seiner Entlastung durch mögliche Aussagen von Zeugen beitragen, die sich an die Tatnacht erinnerten. Zwei weibliche Augenzeugen, die sich daraufhin meldeten, meinten sich zu entsinnen, Otto Becker in der Tatnacht – allerdings im Tatzusammenhang – gesehen zu haben. 

Beckers zweite Vernehmung knapp fünf Monate später dauerte zwölfeinhalb Stunden. Die Kripobeamten begannen, ihn in die Enge zu treiben. Sie hielten ihm vor, nur er könne der Täter sein. In ihrer Vernehmung machten die Polizisten dem Verdächtigen, nachdem er auf ihr Drängen etwas zugegeben hatte, immer neue Vorhaltungen: „Wenn Sie zugeben, am Abend des 1. Mai 1971 in der Nähe des Oslebshauser Bahnhofs gewesen zu sein, dann müssen Sie auch die Schreie der Kampa gehört haben.“ Wenn er dies zugebe, könne er nach Hause gehen. Becker räumte nun ein, die Schreie gehört zu haben – und wurde erst recht in die Mangel genommen. In den Worten des Rechtsanwalts Heinrich Hannover, der Otto Beckers Verteidigung Ende Dezember 1973 übernahm: „Man muss genau sehen, wie die Polizei diese Aussage Beckers herbeigeführt hat.“ Stundenlang sei er zu der Frage vernommen worden, ob es möglich sei, dass er am Tattage, dem 1. Mai 1971, in der Nähe des Tatortes war. Daran konnte sich Becker zwei Jahre nach der Tat nicht mehr konkret erinnern, konnte aber auch nicht mit Bestimmtheit verneinen, denn der Tatort lag in der Nähe der Kneipen, in denen er zu verkehren pflegte. Da er nicht ausschließen konnte, dass er zur Tatzeit in der Nähe des Bahnhofs war, musste er, so schlussfolgerten seine Vernehmer, auch Carmen Kampas Schreie gehört haben, was er „nach stundenlangen Vorhaltungen“ bejahte. Im ihm suggerierten Glauben, das sei für ihn entlastend. „Genau das Gegenteil war der Fall. […] Er hat sich in dem Geflecht seiner eigenen von den Polizeibeamten herbeigeführten Aussagen immer mehr verheddert und fand überhaupt keinen Ausweg mehr.“ Dann habe Becker seine ganze Aussage widerrufen, nahm aber an Tatrekonstruktionen teil „und widersprach damit dem, was er gerade vorher gesagt hatte“ (Hannover).

„Schuldig“

Am 14. Januar 1975 wurde Otto Becker durch die erste Kammer des Bremer Schwurgerichts des Mordes und der Vergewaltigung schuldig gesprochen. Die das Urteil begründenden belastenden Indizien sind ein fehlendes Alibi, das Klappmesser, das Becker besaß, außerdem, dass er sich in polizeilichen Vernehmungen in Widersprüche verwickelt hatte und von mehreren Personen wiedererkannt worden war. Selbst die Homosexualität des Angeklagten konnte diesen in den Augen des Gerichts nicht entlasten: Carmen Kampa habe Otto Becker wegen ihres „knabenhaften Wuchses“ angezogen. Weil er bei seiner Tat am Maifeiertag alkoholisiert und daher in seiner Zurechnungsfähigkeit beeinträchtigt gewesen sein soll, lautete das Urteil gegen Otto Becker nicht auf lebenslänglich, sondern auf 12 Jahre und 3 Monate Haft. 

Sein Verteidiger Heinrich Hannover war von Otto Beckers Unschuld überzeugt und deshalb wegen dieses Urteils empört. Vier Wochen später, am 12. Februar 1975, erklärte er auf einer Pressekonferenz in seiner Kanzlei: „Eine Justiz, die auf so schwache Indizien hin ein Urteil wegen Mordes aussprechen kann, kann jedem Bürger zum Verhängnis werden.“ Justizkritik, die so in Bremen noch nicht geäußert wurde. Und Hannover appellierte an die Öffentlichkeit, ihm bei der Ermittlung des wahren Mörders von Carmen Kampa zu helfen. 

Spurenakte 59 taucht wieder auf

Etwa zur gleichen Zeit im Bremer Polizeihaus Am Wall: Der frischgebackene, nach Bremen zurückgekehrte Kriminalkommissar Ernst Lange machte den jungen Richter auf Probe Lothar Spielhoff, der das erste Kriminalkommissariat durchlaufen sollte, im Aktenraum – mit sämtlichen Spurenakten des Mordfalls Kampa – auf Spurenakte 59 aufmerksam. Die solle er zum Lernen mal lesen, die sei interessant. „Das darf doch nicht wahr sein“, habe Spielhoff wiederholt gesagt, hörte Ernst Lange, der dem Hospitanten gegenüber saß. „Irritiert hat mich diese Spurenakte deshalb, weil dort einer Spur nachgegangen worden war“, die auf einen anderen Täter hinwies, so Spielhoff in diesem Feature. Lange, der zu seiner Enttäuschung mitbekommen hatte, dass nunmehr Otto Becker zum alleinigen Hauptverdächtigen geworden war: „Für mich und Herrn Weinrich war H. der Täter. Für mich brach ‘ne Welt zusammen, wie ich plötzlich hörte, dass diese Spur überhaupt nicht mehr verfolgt wurde“. Lothar Spielhoff schildert nun seine Unsicherheit, wie er damit umgehen sollte, dass eine Spurenakte auftauchte, die auf einen anderen Täter hinwies, die in dem Verfahren aber überhaupt keine Rolle spielte. Im Rahmen eines privaten Treffens aus früheren Mitreferendaren erzählte er noch am selben Tag einem engen Freund davon. Dies schnappte vom Nebentisch ein Anwesender auf, der Mitarbeiter des Büros Hannover war und dem Anwalt Otto Beckers am nächsten Morgen davon berichtete und auf Spurenakte 59 aufmerksam machte. Daraufhin wurde diese von Heinrich Hannover bei der Polizei angefordert. Lothar Spielhoff aber wurde am nächsten Tag (O-Ton) „relativ schnell“ zum Leiter der Kripo gerufen und „gewaltig zur Schnecke gemacht“. Es wurde ihm bedeutet, seine Stunden bei der Kriminalpolizei seien gezählt. Margot Overath: „Lothar Spielhoff musste seine Ausbildung bei der Polizei auf der Stelle abbrechen.“

Nun waren zwar mit dem „Wiederentdecken“ eines anderen, des Mordes an Carmen Kampa viel dringenderen Verdächtigen Fakten aufgetaucht, die Otto Becker entlasteten. Jedoch, so die Autorin, reichen neue Tatsachen „in einem Schwurgerichtsprozess nicht zur Aufhebung des Urteils. Es gibt keine Berufungsinstanz […] Es gab nur eine Möglichkeit, das Urteil aufheben und den Fall neu verhandeln zu lassen“: nur bei Nachweis von formalen – nicht inhaltlichen – Fehlern in der Organisation des Verfahrens. Und auf einen solchen formalen Fehler stieß Heinrich Hannover und hatte somit ein weiteres Mal Glück: Es stellte sich heraus, dass im Prozess gegen Otto Becker zwei Schöffen verwechselt wurden. Die nicht korrekte Besetzung des Gerichts war ein Grund, das Urteil aufzuheben und ein zweites Mal zu verhandeln. Und in diese Neuverhandlung konnte der Rechtsanwalt Spurenakte 59 einbringen. 

Neue Hauptverhandlung endet mit Freispruch

Vom 4. November bis zum 28. Dezember 1976 wurde vor Bremens zweiter Schwurgerichtskammer neu verhandelt. Das allein war schon ungewöhnlich genug und mobilisierte die Öffentlichkeit, wie sich Hans-Günther Thiele, damals Justizberichterstatter des Bremer Weser-Kurier, im Feature erinnert.
Nun muss sich der in der Mordsache Kampa Verdächtige H. – aus der Haft in anderer Sache vorgeführt – vor Gericht verantworten und den Fragen von Heinrich Hannover stellen. Zeugen hatten H. bereits stark belastet, als am 13. Dezember 1976 „die entscheidende Wende“ (Overath) eintrat. Der Rechtsanwalt hatte, wie er im Feature sagt, „von einer Person aus dem Umkreis dieses Tatverdächtigen“ eine vertrauliche Information darüber bekommen, dass H. einige Jahre zuvor einen Romantext geschrieben hatte, in dem zwei Männer eine Frau mit einem Stilett sexuell gefügig machen, „genau in der Art, wie der Mord an Carmen Kampa ausgeführt worden sein muss.“ Darüber befragt Hannover den Verdächtigen H. Der sagt, das Manuskript sei eine Gemeinschaftsarbeit mit einem Mithäftling in „Santa Fu“ (JVA Fuhlsbüttel) gewesen. „Wie kamen Sie denn auf die Idee, ein solches Manuskript zu verfassen?“ [Das Feature gestaltet diesen Wortwechsel, wie zuvor schon Otto Beckers Verhöre, als kleine Spielszene.] Es entspreche keineswegs seiner Neigung, sagt H. Sein Manuskript sei für eine Umarbeitung zu einem Fernsehspiel gedacht gewesen. Er habe es etwa 1969/70 geschrieben. Hannover und dann auch der Vorsitzende Richter insistieren auf Details, an die sich H. nicht mehr zu erinnern meint. Er dachte, der Anwalt habe sein Manuskript vorzuliegen. Das traf nicht zu, Hannover hatte aber „genaue Informationen über seinen Inhalt.“ 
„Es traf ins Schwarze. Es las sich wie ein Drehbuch“ für den Mord an Carmen Kampa. Und „es war der vorweggenommene Freispruch für Otto Becker“, erinnert sich im Feature Hans-Günther Thiele vom Weser-Kurier. Hannover glaubte, „den wirklichen Täter gefunden und überführt“ zu haben. Er spricht (O-Ton) von einem „Erfolgserlebnis, wie es eigentlich nur in Filmen vorkommt.“ Thiele meint, Hannover habe sich mit der Mordsache Carmen Kampa in die bremische Justizgeschichte eingeschrieben.
Otto Becker wurde freigesprochen und erhielt eine Haftentschädigung. Der Mord an Carmen Kampa aber blieb ungesühnt. Hans Janknecht, der damals die Anklage vertrat und später zu Bremens Generalstaatsanwalt berufen wurde, hielt noch im Jahr der Produktion dieses Features Otto Becker für den Täter. Janknecht übrigens war zu einem Interview für diese Sendung, wie deren Autorin schon eingangs mitteilt, nicht bereit. Der Fall Kampa sei, so Overath, noch „heute“ [1995] ein Trauma der Bremer Justiz.

Nachtrag Nordwestradio am Schluss dieser knappen Sendestunde: 16 Jahre nach Margot Overaths Feature und 40 Jahre nach dem Mord an Carmen Kampa, im Jahr 2011, wurde nach erneuter eingehender Untersuchung der bereits 2003 verstorbene Wachmann Hermann R. als Täter ermittelt. Er war 1971 nur vorübergehend in den Kreis der Verdächtigen geraten.

2011 war auch der Verdächtige H. bereits gestorben, Otto Becker starb im Jahr 2001.

Es bleiben Fragen: Ist mit dieser nun offiziellen Festlegung auf einen Täter der Verdächtige H. entlastet? Die Zwei-Täter-Theorie, die beim Betrachten der Fakten durchaus plausibel erscheint, würde H. als weiteren Täter nicht ausschließen. Heinrich Hannover, der dem Mord an Carmen Kampa ein Kapitel seines Erinnerungsbuchs „Die Republik vor Gericht“ widmet, schreibt dort, dass Oberstaatsanwalt Janknecht „sich vehement für Haerynk [hier Name von Hannover geändert] ins Zeug gelegt und gemeint hatte, dieser – und nicht etwa Otto Becker – sei bei der Vernehmung durch die Kriminalpolizei ,in die Enge getrieben‘ worden.“ „Ins Zeug gelegt“ für einen mehrfach verurteilten Straftäter, der zudem wegen Vergewaltigung vor Gericht stand? Ein Oberstaatsanwalt? An anderer Stelle schreibt Hannover (in der ersten Person), dass Janknecht im Fall Kampa „die Kriminalpolizei angewiesen hatte, mir keinerlei sachbezogene Auskünfte zu erteilen“. Wahrheitsfindung ist zweitrangig? Da wundert es nicht, dass der prominente Rechtsanwalt in seinem Buch von einer „kaum glaublichen Ermittlungstragödie“ spricht. 
Zum Schluss noch eine zeitgenössische Einschätzung, die nach dem Freispruch für Otto Becker im „Spiegel“ (1/1977) zu lesen war: „Die Umstände des Verschwindens und Wiederauftauchens dieser Spurenakte [59] werden heute in Bremen ,ominös‘ genannt“.

Mehr von Margot Overath in diesem Blog:
- „Vertuschung großen Ausmaßes“ – über den 2. Juni 1967 und die Hintergründe der Tötung Benno Ohnesorgs.

Spurenakte 59

Rückblick auf einen Bremer Justizskandal – Heinrich Hannover und der Fall Otto Becker

Feature von Margot Overath
Im Originalton: Heinrich Hannover, Otto Becker, Ernst Lange, Berndt-Adolf Crome, Lothar Spielhoff, Hans-Günther Thiele, Jobst von Karger
RB 1995

Nordwestradio
28. August 2016, 16.05 Uhr, 55 min.