MDR Kultur, 24. Mai 2017

Vertuschung großen Ausmaßes

Auch nach einem halben Jahrhundert gibt es neue Erkenntnisse zum Abend des 2. Juni 1967 – Feature-Premiere

Es kommt nicht gerade häufig vor, dass ein neues Radio-Feature, wenn ich richtig gezählt habe, von sage und schreibe acht Sendern ausgestrahlt wird. Da muss zum einen seinem Thema eine besondere Bedeutung zukommen: eine Erinnerung an den nunmehr ein halbes Jahrhundert zurückliegenden 2. Juni 1967, dem Tag des Besuchs des iranischen Kaiserpaars in der Frontstadt West-Berlin, mit den Protesten, die die Staatsgäste begleiteten – und dem negativen Höhepunkt des tödlichen Schusses eines Polizisten auf einen demonstrierenden Studenten. Es muss aber auch eine Autorin wie Margot Overath sein, wenn so viele Sender zugreifen. Für die vielfach, unter anderem mit dem Axel-Eggebrecht-Preis 2016 Ausgezeichnete, ist es nicht die erste Radioarbeit über den 2. Juni und sein Todesopfer Benno Ohnesorg: 2002 wurde bereits ein Feature produziert, das zehn Jahre später – nach neuen Erkenntnissen im Anschluss an die 2009 enthüllten Stasi-Verstrickungen des Todesschützen Karl-Heinz Kurras – in einer aktualisierten Fassung erneut gesendet wurde. In der Feature-Premiere zum fünfzigsten Jahrestag werden nun die vor fünf Jahren als neu präsentierten Ermittlungsergebnisse durch weitere Belege bekräftigt.

Noch nie gehörte Augenzeugen

Mit welchen Neuheiten ihre aktuelle Sendung aufwarten kann, darüber gab Margot Overath dem rbb in einem Interview Auskunft: „Wir […] haben mit Augenzeugen gesprochen, die sich noch nie geäußert hatten. […] Und wir haben mit Polizeibeamten gesprochen, die bisher noch nie ein Wort gesagt hatten.“ Eine mittlerweile „lückenlose Beweiskette“ nennt es in seinem neusten Buch (von dem weiter unten noch die Rede sein wird) ein anderer Experte zu dem Komplex Zweiter Juni–Ohnesorg–Kurras: Uwe Soukup, der seit 20 Jahren zum Thema recherchiert und 2007, zum vierzigsten Jahrestag, ein erstes eigenes Buch vorgelegt hatte.

Hauptanliegen des Features ist eine Rekonstruktion des Abends des zweiten Juni 1967 vor der Deutschen Oper und in der nebenan liegenden Krumme Straße. Außerdem wird unterstrichen, wie Overath im Interview betont, dass die Vertuschung des wirklich Geschehenen schon „direkt nach dem Schuss“ begonnen habe. Nur gestreift werden die Hauptanregung für die Demonstrationen des 2. Juni – eine Rede des Exil-Persers Bahman Nirumand am Vortag in der Freien Universität – sowie die Proteste am Vormittag des Staatsbesuchs vor dem Rathaus Schöneberg (Sitz des Regierenden Bürgermeisters Albertz) mit den ersten Knüppelschlägen auf Demonstranten.

Am Abend vor der Oper: heitere Stimmung mit „Happening Charakter“

Am Abend des zweiten Juni besuchen Mohammed Resa Schah und seine junge Frau Farah Diba eine Vorstellung von Mozarts „Zauberflöte“ in der Deutschen Oper im Berliner Bezirk Charlottenburg. Für Schah-Gegner wie für die klar die Mehrheit bildenden Schaulustigen – insgesamt finden sich mindestens 2000 Menschen ein –, hat die in großer Zahl erschienene Polizei auf der der Oper gegenüberliegenden Seite einen 100 Meter langen und sechs Meter breiten Bereich abgesperrt, der hauptsächlich den Gehweg abdeckt, bis zum Fahrbahnrand reicht und im Rücken der Zuschauer von einem Bauzaun begrenzt wird. Der Augenzeuge Arlan Schmidt, damals Medizinstudent, erinnert sich 50 Jahre später: Die Stimmung unter den Zuschauern hinter den Absperrgittern war eine heitere, „Happening Charakter“ an einem warmen Sommerabend. [Die zahlreichen Fotos, die von der Menschenmenge aufgenommen wurden, gesammelt etwa in den Büchern von Uwe Soukup, belegen dies.] In einer Entfernung von 30 Metern trifft nach und nach die Prominenz ein: Der Schah, seine Gattin und Berliner Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft. Wie schon am Vormittag am Rathaus Schöneberg haben sich auch „Jubelperser“ eingefunden. 
Arlan Schmidt wundert sich über „diese Riesenanzahl von Krankenwagen“, mindestens fünfzig, die seitlich der Oper parken. Er ahnt, dass, als die Bereitschaftspolizei-Kette immer dichter rückt, etwas bevorsteht. Um 19.50 Uhr befiehlt Polizeipräsident Erich Duensing, der selber zunächst die Opernvorstellung besucht, seinem Einsatzleiter die Räumung des abgesperrten Bereichs mit der Menschenmenge, sobald der Schah in der Oper ist.

Falschmeldung über einen von Studenten erschlagenen Polizisten

„Ein Polizeioffizier geht durch die Reihen der wartenden Einsatzkräfte“, hören wir im Feature. „Einer ihrer Kollegen sei von Studenten erschlagen worden, behauptet er.“ Eine Falschmeldung. Der anwesende Reinhard Strecker, damals wissenschaftlicher Mitarbeiter und Publizist, betont, das habe man genau mitbekommen. „Erschlagen oder erstochen oder ermordet, er ließ sich dazu nicht aus. Aber er hetzte sie regelrecht auf.“ Die Polizeikräfte auf der Fahrbahn werden immer zahlreicher, je näher der Beginn der Opernvorstellung rückt. Bereits jetzt beobachten die Zuschauer einzelne enthemmte Schlagstockeinsätze von Polizisten gegen Demonstranten, die von den Beamten aus der Menge herausgegriffen werden. Per Megaphon kommt die Aufforderung der Polizei (O-Ton im Feature), die an der Oper vorbeiführende Bismarckstraße zu räumen. Nur wie, wenn man eingekesselt ist?

Ausdrücken der Leberwurst

Es ist 20.07 Uhr. „Das Ausdrücken der Leberwurst beginnt“, setzt das Feature fort. „Polizeipräsident Duensing wird später den Schlauch gegenüber der Oper als Leberwurst bezeichnen: In die Mitte hineinstechen und zu beiden Seiten herausdrücken.“ Dies meint, dass eine Reihe Uniformierter etwa in der Mitte des abgesperrten Bereichs über die Sperren springen und beginnen, die Menschenmasse zu den Seiten abzudrängen. Dort aber werden die „Ausgedrückten“ von Knüppeln empfangen.
Eine offensichtlich geplante Aktion. Doch von dem Augenzeugen Detlef Wulff, damals junges Mitglied der Bereitschaftspolizei, hören wir, er und seine Kollegen hätten keine Ahnung gehabt und nicht verstanden, warum diese „Räumaktion“ kam und manche Kollegen „völlig grundlos“ „spontan“ über die Absperrung sprangen und mit der Räumung begannen. Dient das der Selbstentlastung noch 50 Jahre später? Heinrich Burger, als Fotoreporter der Berliner Morgenpost damals dabei, erinnert sich im Feature: „Und dann haben die Demonstranten versucht zu entfliehen und sind dann gejagt worden von der Polizei.“
Burger ist einer von mehreren Augen- und Ohrenzeugen des Abends des 2. Juni 1967, mit denen Margot Overath fünfzig Jahre später am Ort des Geschehens ist. Ein anderer ist der damalige Medizinalassistent Reinhard Bolk. Bolk konnte nicht verstehen, dass dem Räumungsbefehl nachgekommen wurde und die Polizei trotzdem hinterherkam. Er gehört zu den Vielen, die auf der einen Seite des „Zuschauerschlauchs“ unter den Polizeiknüppeln rechts um die Ecke in die Krumme Straße laufen. 

Krumme Straße: Uniformierte und Zivile gegen Demonstranten

Dort sind Schutz- und Bereitschaftspolizisten gegen die Demonstranten im Einsatz, außerdem „Greiftrupps“ in zivil: Mit Dienstpistolen bewaffnete Kriminalbeamte vom Staatsschutz, die „Rädelsführer“ herausgreifen sollen. Zu ihnen gehört Karl-Heinz Kurras. Die Greifer, da ja nicht in Uniform, werden laut Arlan Schmidt als Polizisten nicht erkannt. Bereitschaftspolizist Detlef Wulff: „Die Straße war richtig randvoll, da passte keiner mehr rein.“ 

Eine der besten Berufsarmeen der Welt

Polizeipräsident Duensing, früherer Generalstabsoffizier der Wehrmacht, wird aus der Oper geholt und geht direkt in die Krumme Straße. Margot Overath: „Er hatte ehemalige Gestapo-Leute, SS- und Wehrmachtsoffiziere um sich versammelt. Ganze Wehrmachtsverbände waren in die Polizei übernommen worden.“ Kein Wunder also, dass bestimmte Polizeikräfte eher eine militärische Funktion erfüllten. Detlef Wulff: „Die Bereitschaftspolizei gehörte zu den besten Berufsarmeen der Welt. […] Und so war unser Denken und so war unsere Führung. Stramm militärisch. Und so dachte man und so reagierte man.“ 
In der Krummen Straße versperrt eine Polizeikette den Demonstranten den Weg. Hinter ihr steht Polizeirat Ewald Behrens, Ausbildungsleiter bei der Schutzpolizei, Chef der Schießabteilung des Polizeisportvereins. Auch er kam aus der Wehrmacht. Karl-Heinz Kurras, der als Sportschütze gleichfalls viel Zeit auf dem Schießplatz verbringt, ist Behrens’ bester Schütze.

„Füchse jagen“

Heinz-Peter Engler, ein weiterer Augenzeuge der Polizei, 1967 Oberwachtmeister, erzählt im Feature, wie Greifer in der Krummen Straße durch die Polizeikette, die er, Engler, mit bildete, in die „Demonstrantenmenge“ hineinlaufen: kurz vor halb neun heißt es nun „Füchse jagen“, „Rädelsführer“ festnehmen. Weil es gar keine gab, wurden Auffällige ausgewählt. „Unter den Einsatzkräften“, hören wir weiter, „geht die Parole um: Die wollen uns totschlagen“, dem aber widerspricht Arlan Schmidt: „Es war keine Aggressivität, das kann ich mit Sicherheit sagen.“ Von der Straße flüchten Demonstranten auf ein Hofgrundstück, gefolgt von zivilen Greifern – unter ihnen Kurras – und Uniformierten. 

„Riesenkeilerei“

Heinz-Peter Engler hört einen folgenschweren Ruf von Ewald Behrens: „Ihr feigen Schweine, wollt ihr die da auf dem Hof verrecken lassen?“ Daraufhin kommt es in den Worten von Engler zur „Riesenkeilerei auf dem Hof“, der ganz schnell mit Menschen angefüllt ist, sich aber auch rasch wieder leert. Heinrich Burger fotografiert, wie der hell gekleidete Götz Friedenberg (einer der letzten auf dem Hof verbliebenen Demonstranten) sogar bereits am Boden liegend von mehreren Polizisten mit Schlagstöcken verprügelt wird. Dies sieht auch Erika-Maria Hörning [in den Dokumenten von 1967 Erika S.], eine weitere im Feature zu hörende Augenzeugin, die im selben Moment Benno Ohnesorg erblickt, der aus dem Hof herauszugelangen versucht.

Ein Schuss fällt – was Zeugen sehen und hören

Frank Krüger, knapp 18 Jahre alter Schüler, hat in der Gegend Werbezettel verteilt und wird zum zufälligen Zeugen. 50 Jahre später erzählt er, wie ihm Benno Ohnesorg wegen seines roten Hemdes auffiel. Er sieht, wie auch Ohnesorg von Polizisten mit Schlagstöcken attackiert wird. 
Es ist halb neun. „Vom Rand des Hofs kommt Kurras angerannt“, setzt das Feature fort. „Er zieht die Waffe und schießt auf Ohnesorgs Kopf. Kameramann Michael Busse vom Süddeutschen Rundfunk filmt den laufenden Mann. 43 Jahre lang schlummert diese Szene unerkannt in Roman Brodmans legendärem Dokumentarfilm ,Der Polizeistaatsbesuch’. Bis ein BKA-Beamter sie digitalisieren lässt und in Zeitlupe abspielt.“
Auch auf Heinrich Burgers Foto der Prügel auf Götz Friedenberg verbirgt sich eine enthüllende Szene. Ein Bundesanwalt und ein BKA-Beamter entdecken 2010 „im Hintergrund der Prügelszene Karl-Heinz Kurras im Augenblick des Schusses. Mit links schiebt Kurras seinen Kollegen Kriminalkommissar Schultz zur Seite.“ [Andere Experten deuten dies als ein Aufstützen von Kurras.] Weitere Polizisten, von denen später ermittelt wird, dass sie sich zu jenem Zeitpunkt auf dem Hof befanden – wie Kurras’ Einsatzleiter Helmut Starke –, können auf dieser Aufnahme identifiziert werden.
Erika Hörning sieht, wie auf Benno Ohnesorg von Polizisten eingeschlagen wird, auf Körper und Gliedmaßen, nicht auf den Kopf. „Und deshalb war ich ja so erstaunt, als der plötzlich wie so ne Spirale zusammenfiel“. Auch Frank Krüger wird Augenzeuge der Prügelorgie auf Ohnesorg. Er sieht, wie „in Kopfhöhe“ geschossen wird und den Mann, der den Schuss abgab. „Der Mann in dem roten Hemd“ ging zu Boden. Arlan Schmidt, der im Feature erzählt, wie er versucht hatte sich zu verstecken, hört einen Ruf „Bitte nicht schießen“, dann den Knall und läuft weg. Auch Reinhard Bolk, der in dem offenen Parkhof auf eine Mülltonne gestiegen war, „in der Hoffnung, ich werde übersehen“, sieht Kurras und den fallenden Benno Ohnesorg. Er wird von der Tonne heruntergeprügelt und aus dem Hof gedrängt [was auf einem Foto festgehalten ist].
Erika Hörning: „Ich habe ihn zusammensacken sehen und ich hab gemerkt, wie die Polizisten sich zurückziehen. Und dann bin ich hin.“ Auch Polizisten eilen nun davon. 
Hans Brombosch, damals achtjähriger Augenzeuge durchs Fenster einer Parterrewohnung, sieht Kurras allein, er kann bezeugen, dass dieser nicht, wie der Staatsschutzbeamte später behauptet, „von irgendwelchen Personen angegriffen wurde.“

Der herbeigerufene Krankenwagen ist lange unterwegs

Erika Hörning untersucht Benno Ohnesorg auf Lebenszeichen und fordert auf, eine Ambulanz zu holen. Der Krankenwagen mit dem tödlich verletzten Studenten fährt viertel vor neun los (ein Polizeiwagen vorweg), steuert keines der nächstgelegenen Krankenhäuser an, sondern die fünf Kilometer entfernte Rettungsstelle Moabit. Und benötigt für diese Strecke dreimal so viel Zeit wie eigentlich möglich gewesen wäre. Margot Overath: „Zur Operation kommt es nicht mehr, der Anästhesist stellt den Tod des Unbekannten fest. Es ist 21 Uhr 55.“ Zwei Polizeibeamte halten sich noch im Haus auf. Später aber, erinnert sich die an jenem Abend im Dienst befindliche Krankenschwester Lieselotte Schröder fünfzig Jahre später, „waren ganz ganz viele Polizisten da und auch Kripo“, geschickt von Kurras’ Einsatzleiter Helmut Starke. Und war einem Polizisten anfangs noch die tödliche Schussverletzung am Kopf von Benno Ohnesorg gezeigt worden, so ist auf dem Totenschein von einer „Schädelverletzung durch stumpfe Gewalteinwirkung“ als Todesursache die Rede, der Todeszeitpunkt um eine Stunde auf 22 Uhr 55 verlegt. 

Manipulation an Ohnesorgs Schädel

Was in der Zwischenzeit geschehen ist, erweist sich am Vormittag des 3. Juni. Im Leichenschauhaus der Polizei beginnt die Obduktion. Rechtsanwalt Horst Mahler sieht als Vertreter von Benno Ohnesorgs Ehefrau Christa von einer Glaskuppel aus zu. Abgesehen von den vielen Hämatomen an Ohnesorgs Körper, verursacht von den Polizeiknüppeln, wird festgestellt, dass am Schädel des Opfers manipuliert wurde: Die Knochen um das Einschussloch wurden weggebrochen – um Schmauchspuren zu beseitigen? Denn, so Margot Overath: „Ohne Schmauchspuren am Rand der Einschusswunde kann die Schussentfernung nicht berechnet werden, ist kein Schuldbeweis möglich.“ Arlan Schmidt meint 50 Jahre später, es gab Manipulationen, um Spuren zu verwischen. 

Kurras „war nicht bedroht“

In einer dienstlichen Erklärung zur Begründung, warum er die Schusswaffe benutzte, behauptet Kurras, bis zu zehn „Aufrührer“ hätten ihn attackiert, zwei davon sogar mit einem Messer. Er habe lediglich Warnschüsse abgegeben, einer habe Benno Ohnesorg unglücklich getroffen. Augenzeuge Reinhard Bolk aber ist sich sicher: „Nein, der war nicht bedroht.“
Polizeikommissar Jung vernimmt die Beamten, die Kurras bei dem Schuss auf Benno Ohnesorg gesehen haben könnten. Jung und die ihn unterstützenden Kollegen, heißt es weiter im Feature, „finden ohne Probleme die Wahrheit heraus. Jahrzehnte später spricht er darüber in einer Veranstaltung der taz“, wovon ein Tondokument im Feature zu hören ist: Jung ermittelte demnach, dass Kurras’ Schuss fiel, während die Benno Ohnesorg umringenden Uniformierten auf diesen einschlugen. O-Ton Jung: „[…] Kurras muss direkt dazwischengelangt und geschossen haben“. Doch die Vernehmungsprotokolle von Beamten des Einsatzes in der Krummen Straße verschwinden. Von den Einsatzkräften im Hof, am Ort des Todesschusses, wird nur etwa die Hälfte befragt. Und die Berliner Polizei verbreitet an alle bundesdeutschen Landeskriminalämter die Kurras-Version von Angriff und Warnschüssen.

„Das ist skandalös“

Karl-Heinz Kurras musste sich für seine Tat zweimal, 1967 und 1970, vor Gericht verantworten – die Anklage lautete auf fahrlässige Tötung. Otto Schily, der spätere Bundesinnenminister und damalige Rechtsanwalt, der in beiden Prozessen gegen Kurras Benno Ohnesorgs Vater als Nebenkläger vertrat, erhebt im Feature schwere Vorwürfe gegen Kriminalhauptkommissar Helmut Starke, wie oben geschildert ein Augenzeuge von Kurras’ Schuss. Starke habe „pausenlos gelogen“, so Schily. Es sollte, meint der Zeitzeuge heute, zu keiner Verurteilung kommen.
Filmaufnahmen wie die der Fox Tönenden Wochenschau verschwinden. Otto Schily: „Es gibt eine lange Liste von Dingen, wo man sagt, das ist skandalös. […] In der Summe hat hier eine Vertuschung stattgefunden großen Ausmaßes.“ Und Zeugen wie diejenigen, die ein halbes Jahrhundert später in diesem Feature zu Wort kommen, wurden nicht ernst genommen oder erst gar nicht befragt. Reinhard Bolk etwa fühlte sich vor Gericht „irritiert“.
Der zweimalige Freispruch für Kurras – bis heute nicht korrigiert – wurde zum Justizskandal. Reinhard Bolk: „Mein Vertrauen in die sogenannte Obrigkeit war total erschüttert.“

Ergänzungen / Nachbetrachtung:  

Margot Overath ist auch Mitautorin des Dokumentarfilms „Wie starb Benno Ohnesorg? Der 2. Juni 1967“ (rbb/hr 2017) (auch auf youtube), der sich mit dem hier besprochenen Radiofeature inhaltlich überschneidet. Der Film zeigt unter anderem, dass Benno Ohnesorg auch in dem Schlauch/der „Leberwurst“ vor der Deutschen Oper auf Filmaufnahmen identifiziert werden kann. Im Film kommen noch weitere Zeitzeugen zu Wort, wie der Grünen-Politiker Wolfgang Wieland, der ebenfalls Augenzeuge des Abends des 2. Juni 1967 vor der Oper und in der Krummen Straße war.

Kurras und die Stasi – Merkwürdiges und Fragezeichen

Warum Karl-Heinz Kurras Benno Ohnesorg erschoss, kann nur spekuliert werden. Der Todesschütze starb 2014 und nahm sein Geheimnis mit ins Grab. Eine vage Vermutung äußert das Feature: Kurras, der erst über vierzig Jahre später enttarnte Stasi-Spitzel, war 1965 zur Politischen Polizei gewechselt. Just seit jenem Jahr vermutete die Führung seiner Abteilung Verräter in den eigenen Reihen. Kurras’ Schuss konnte davon möglicherweise ablenken.
Die von der Stasiunterlagen-Behörde 2009 aufgedeckte Spitzeltätigkeit von Karl-Heinz Kurras für das DDR-Ministerium für Staatssicherheit kommt in dieser Sendung wiederholt zur Sprache. Zwölf Jahre lang, von 1955 bis 1967, soll Kurras Akten kopiert und Berichte geschrieben haben. Wie unglaublich das vor dieser Enthüllung erschien, fasst der ehemalige Polizeireporter des Berliner Boulevardblatts BZ Wolfgang Schöne, Schießkamerad, langjähriger Freund und Vertrauter von Kurras, in dem erwähnten ARD-Dokumentarfilm in Worte: „Als ich erfahren habe, dass er Stasi-Spitzel war – das hat mich umgehauen“. Selbst für jemanden also, der Kurras gut kannte, so dürfen wir deuten, war das jenseits jeder Vorstellung. Der Zweite-Juni-Experte Uwe Soukup im Interview mit dem Deutschlandfunk vom 23. Mai 2009 sozusagen mit seinen ersten Gedanken: „Es ist vollkommen irre, das ist vollkommen absurd. Wir gehen jetzt mal davon aus, dass es aber so ist.“ Klingt hier ein leiser Zweifel an? Wer damals die Artikel las, konnte sich durchaus wundern: Karl-Heinz Kurras soll, wie die „Zeit“ (28.5.2009) schrieb, jahrelang zwischen Ost und West gependelt sein, ohne dass es bemerkt wurde. Wo doch West-Berlin damals ein „Tummelplatz so ziemlich aller Geheimdienste dieser Welt“ (junge Welt, 27.5.2009) war. 
Acht Jahre später äußert Uwe Soukup im Gespräch mit KenFM: „Ich frage mich und das hat man sich in Ost-Berlin auch mal gefragt“ – Soukup will das in den Dokumenten der Stasi-Unterlagenbehörde gefunden haben –, „ob der Eintritt in die Stasi nicht von vornherein ein Fake war“ – und Kurras tatsächlich ein Doppelagent. War es nicht „eine verdeckte Operation westlicherseits“? Soukup habe dafür aber keine Belege. (Immerhin äußerte der Grünen-Politiker Wolfgang Wieland bereits im Interview mit der Berliner Zeitung vom 30. Mai 2009 die Hypothese, dass Kurras Doppelagent gewesen sein könnte.) „Einiges macht einen sehr merkwürdigen Eindruck“, so Soukup weiter. Bleibt zu wünschen, dass er darauf noch genauer eingehen wird. Von einigen „Merkwürdigkeiten“ schreibt Soukup in seinem neuen Buch, so etwa dass der Agent Kurras laut Stasiakten immer wieder einen bodenlosen Leichtsinn an den Tag legte, wobei er sich in große Gefahr begab, entdeckt zu werden. Dass Kurras’ Führungsoffizier beim Ministerium für Staatssicherheit die Ehrlichkeit seines Agenten überprüfen wollte, könne, so Soukup, „nichts anderes bedeuten […] als die Überlegung, dass sich so leichtsinnig nur verhalten kann, wer sich vor Enttarnung sicher fühlt, da er mit Wissen der westlichen Seite agiere.“
Dass der autoritär durch das NS-Regime geprägte Kurras, der seine feindliche Einstellung gegen die Studenten und verallgemeinert gegen alles „Linke“ offensichtlich bis ins hohe Alter beibehielt, irgendwelche Sympathien für DDR und Sozialismus hegte, ist nicht glaubwürdig – die wegen unerlaubten Waffenbesitzes gegen den jungen Kurras nach dem Krieg verhängte sowjetische Lagerhaft in dem umgewidmeten Lager Sachsenhausen sollte ihm das ausgetrieben haben. Nun gut, dann mag er sich nur des Geldes wegen auf Spitzeldienste für die Stasi eingelassen haben.

„Es scheint, als käme der Fall Kurras nie zu einem Ende“, schreibt Uwe Soukup im Vorwort zu seinem neuen Buch. Wünschen wir, dass hartnäckige Spürnasen wie Soukup selber, Margot Overath oder auch Peter Wensierski vom „Spiegel“ an dem „Fall“ dranbleiben. Denn, so viel kann ich nach wenigen Wochen meiner eigenen Beschäftigung sagen: Zweiter Juni, Ohnesorg, Kurras: Ein Thema mit Suchtpotenzial, ein „Fall“, der eben noch lange nicht vollständig aufgeklärt ist.

Das Manuskript zur Sendung (zum Beispiel bei SWR2) ist leicht gekürzt im Vergleich zur MDR-Fassung, der längsten Sendefassung.

Mehr zum Thema (eine kleine Auswahl):

- Uwe Soukup: „Der 2. Juni 1967. Ein Schuss, der die Republik veränderte“ (TRANSIT Buchverlag 2017), die überarbeitete, aktualisierte Fassung eines vom Autor vor zehn Jahren erschienenen Titels.
- Kursbuch 12 des Suhrkamp Verlags (April 1968): „Der nicht erklärte Notstand. Dokumentation und Analyse eines Berliner Sommers“ (Autorenkollektiv). Eine fast vergessene, hervorragende, detailreiche Dokumentation, die der Verfasstheit und der Taktik der Polizei aus dem Zeitkontext heraus breiten Raum bietet (antiquarisch oder in gut bestückten Leih-Bibliotheken).
- „Wie starb Benno Ohnesorg? Der 2. Juni 1967“ (rbb/hr 2017), Dokumentarfilm von Klaus Gietinger, Margot Overath und Uwe Soukup.
- KenFM im Gespräch mit: Uwe Soukup.
- „Der Tod des Benno Ohnesorg. 2. Juni 1967“, Film von Michael Kloft (Spiegel TV 2012/ZDF info) mit viel dokumentarischem Film- und Bildmaterial, gewichtigen Zeitzeugen, Peter Wensierski vom Spiegel als Experten sowie dem Versuch einer am Computer entstandenen Rekonstruktion des Tatgeschehens im Hof des „Hauses auf Stelzen“ in der Krumme Straße.
- Fotostrecke bei Spiegel Online.
- „Der Fall Benno Ohnesorg – Manipulation, Vertuschung“ (kurzer Film, laut Angaben bei youtube von 3sat Kulturzeit).

Von Margot Overath in diesem Blog auch: „Trauma der Bremer Justiz“ (über den Mordfall Carmen Kampa).

(Links in diesem Text zuletzt überprüft am 16.9.2018.)

Benno Ohnesorg – Chronik einer Hinrichtung

Feature von Margot Overath
Mit Originalaufnahmen aus Reportagen vom 2. Juni 1967
Im O-Ton: Augenzeugen des 2. Juni 1967 – DemonstrantInnen, Polizisten, Reporter, Krankenhauspersonal u. a.; Otto Schily (1967 und 1970 Anwalt der Nebenklage gegen Karl-Heinz Kurras); Axel Petermann (Profiler); und andere
Sprecher: Eva Meckbach, Michael Evers
Regie: Nikolai von Koslowski
rbb/NDR/BR 2017

MDR Kultur
24. Mai 2017, 22.00 Uhr, 60 min.