„Ich will die wahre Geschichte erzählen, die richtigen Namen nennen“, so zu Beginn dieses Features dessen Autor Bernhard Pfletschinger mittels eines der Sprecher. Dazu trifft er in Nairobi, Kenia, einen Gesprächspartner, der schon Jahre zuvor einiges in Erfahrung gebracht hat über den Mann, nach dem er, Pfletschinger, sucht: eine mysteriöse Persönlichkeit russisch-lettischer Herkunft namens Michel Olian – so er sich in Frankreich und der Schweiz genannt hat. Olian ist 1967 in Rom gestorben, und obwohl oder eher weil er es zu enormem Reichtum gebracht hat, ist über ihn nur schwer etwas in Erfahrung zu bringen. Der Schweizer Journalist Kurt Pelda, zur Zeit der Entstehung des Features Afrika-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, ist derjenige, der Pfletschinger über Olian in Nairobi Auskunft gibt. 1997 hatte Pelda für die NZZ zwei Artikel verfasst, für die er unter anderem umfangreich zu Michel Olian recherchiert hat. Olian war ein Finanzjongleur, der Ende der 1930er Jahre in die Schweiz kam und sich an Geschäften unter anderem mit NS-Deutschland bereicherte.
Jüdische Vermögen bei Schweizer Banken
Kurt Peldas Ausgangspunkt waren in den 1990er Jahren erhobene Vorwürfe gegen Schweizer Finanzinstitute, sich während des Zweiten Weltkriegs am Vermögen ermordeter Juden bereichert zu haben, von dem nachrichtenlose Konten blieben. „Gleichzeitig habe die Schweiz riesige Beutevermögen aus den Raubzügen und Vernichtungslagern der Nazis geschützt, verwaltet und vermehrt“ (Pfletschinger) – sprich: sie ermöglichte die Wäsche des Raubgeldes. Als Folge aus den Vorwürfen wurde in der Schweiz eine Untersuchungskommission eingesetzt, die „Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg“, nach ihrem Vorsitzenden Bergier-Kommission genannt.
Kurt Pelda erzählt im Feature von seinen Recherchen zu verschollenen, zu gelöschten Konten und Strohmännern: Welche Konten, die gelöscht wurden, die unter falschem Namen geführt wurden, so fragte er sich, hatten Juden gehört, die in Konzentrationslagern umkamen. Welche Rolle hatten dabei Strohmänner, die für Andere Konten eröffneten, das Guthaben aber, weil die Kontoinhaber ums Leben kamen, für sich verwendeten und damit auch die Angehörigen der Opfer darum betrogen. In diesem Zusammenhang traf Pelda auf den Namen Michel Olian. Er nahm Olian, wie er im Feature erzählt, für seinen ersten 1997 erschienenen Artikel „Die Banken in der Glaubwürdigkeitsfalle“ als Beispiel für einen namentlich bekannten Strohmann, der Konten für Nazis wie auch für Juden eröffnete – und diese Gelder dann für seine eigenen Zwecke verschwinden ließ. Dabei drückt Pelda sich in seinem Artikel vorsichtig aus, äußert Vermutungen, verwendet den Konditional. Sicher sei aber, dass Michel Olian von den Engländern auf eine Schwarze Liste gesetzt wurde. Oswald Inglins 1991 erschienenem Buch „Der stille Krieg“ sei zu entnehmen, dass Olian bei verschiedenen Banken 48 Konten für Parteigrößen der NSDAP unterhalten haben soll.
Informationen aus erster Hand: Ingrid Traube
Die „wichtigste Reaktion“ auf seinen Artikel kam für Kurt Pelda von Ingrid Traube, die auch dem Feature-Autor Auskunft gibt. Ihr Wissen stammt aus einer familiären Beziehung: 1980 hat Ingrid Traube den Schweizer Ingenieur Thomas Traube geheiratet, der Jahre zuvor mit Tatjana Olian, Michel Olians Tochter, verheiratet war. Diese Ehe, aus der drei Söhne hervorgingen, wurde 1958 geschieden. Von Ingrid Traube erfuhr Kurt Pelda, dass Michel Olian selber Jude war – und dass der bekannte Filmregisseur und Schauspieler Orson Welles („Citizen Kane“) einen Film über Olian gedreht habe [dazu weiter unten]. Ingrid Traubes Quelle war der eigene Ehemann, der frühere Schwiegersohn von Olian. Dass Olian aktenkundig war, hatte sie lange nicht gewusst.
Mit Ingrid Traube, 1940 in Chemnitz geboren, heute mit Schweizer Pass, begegnet der Feature-Autor einer weiteren Expertin für den Komplex Jüdische Vermögen bei Schweizer Banken während des Zweiten Weltkriegs – und für die Finanziers und Strohmänner der Nazis. Es habe sie quasi elektrisiert, in Peldas Artikel den Namen Olian zu lesen. Sie hat auch den Abschlussbericht der Bergier-Kommission „Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg“ durchgearbeitet und konstatiert, dass dort wichtige Leute fehlten und Michel Olian „auf Nichtigkeit zurückgestutzt“ wurde. Er komme nur in wenigen Büchern vor. Ingrid Traube: Olian „glänzt durch Abwesenheit.“
Frau Traubes Informationen waren wiederum Ausgangspunkt für weitere Recherchen Kurt Peldas – zu Michel Olian. Der Journalist konnte zunächst nicht glauben, dass Olian Jude gewesen sei. Es könne doch nicht sein, dass ein Jude mit Nazis zusammengearbeitet hat. „Aus freien Stücken und um Geld zu verdienen.“
Michel Olian: von Riga bis in die Schweiz
Nach den Angaben, die sich zum Lebenslauf Michel Olians aus dem Feature zusammentragen lassen, legte der 1897 in Riga (damals Zarenreich) Geborene nach dem Sieg der Roten Armee über die „Weißen“ den Grundstein für eine lange berufliche Karriere als Spezialist für Finanztransfers: Als „Meister des Transfers von Fluchtgeld“ (Pfletschinger) aus Russland für zaristische, anti-bolschewistische Kräfte wird er schließlich Vermittler und Transporteur von großen Devisenmengen im Geheimen und Währungsspekulant. Schon früh überschreitet Olian die Grenzen der Legalität: Zu den von ihm genutzten modernen schnellen Kommunikationswegen wie dem Telefon gehören auch illegale Funkanlagen, deren Nutzung ihm in Paris die Verurteilung zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe einbringt. Der Informationsvorsprung zum Beispiel über Kursschwankungen des Rubels verschafft ihm hohe Gewinne bei Börsengeschäften.
Olian ging laut eigener Aussage (im Feature zitiertes Verhörprotokoll durch Inspektoren der Schweizer Bundesanwaltschaft Ende 1945) 1922 von Riga nach Berlin. Dort lernte er seine spätere Ehefrau Elisabeth, eine Russin, kennen, die er 1923 in der preußischen Hauptstadt heiratete. Mit Elisabeth geht er noch 1923 nach Paris, wo 1924 beider Tochter Tatjana geboren wird. Vermutlich 1939 kommt die Familie in die Schweiz.
Finanzmann im Dienst des Dritten Reichs
Für Olians Agieren in der Schweiz war entscheidend, dass die Alpenrepublik im Zweiten Weltkrieg der einzige freie Devisenmarkt in Europa wurde – so referiert Kurt Pelda im Feature seine Recherchen für den zweiten von ihm 1997 in der NZZ erschienenen Artikel. Nach der Besetzung Frankreichs zwangen die Deutschen die französische Zentralbank zu Zahlungen in französischen Francs „als Reparation“. Das Geld – hohe Millionensummen – tauschte Olian für die Deutschen in der Schweiz in „harte Währung“ um (US-Dollar, Britische Pfund, Schweizer Franken) und kassierte dafür üppige Provision.
Als Folge des erzwungenen Geldscheindruckens fiel der Kurs des französischen Franc aber ins Bodenlose, so dass Devisen auf andere Weise beschafft werden mussten. Auch dabei spielte Olian eine Rolle. Pelda: „Er ließ sich ein Papier unterschreiben“, dass reiche französische Staatsbürger, die wegen des Krieges in der Schweiz nicht an ihr Geld oder andere Vermögenswerte kamen, ihm aus der Zeit vor dem Krieg Geld schuldeten. Von dem dann Olian wenn nötig durch Bestechung von Schweizer Behörden freigegebenen Geld in Schweizer Franken zahlte er die Franzosen aus und erhielt eine Kommission. So eröffnete sich auch für die Deutschen ein Weg, in der Schweiz an Geld von französischen Juden in harter Währung auf dem Erpressungsweg zu gelangen, an das sie nicht gekommen wären, hätte es nicht Menschen wie Michel Olian gegeben. Dem Finanzmann halfen seine Kontakte, die er in ganz Europa hatte.
Laut Kurt Pelda hatte Olian auch enge Beziehungen zum Oberkommando der Wehrmacht, zum Devisenschutzkommando und der Vichy-Regierung. Er kannte zum Beispiel einen Anwalt von Hermann Göring, Karl vom Berg, der half, Werte der Schweizer Firma Geigy in Frankreich freizugeben.
Olians Geschäftspartner waren nach dem Krieg entweder angeklagt oder in aller Welt verstreut. Mit seinen Kenntnissen – nur er wusste, wo viele Werte verborgen waren – hat er sie wohl für sich selbst verwendet.
Den Schweizer Behörden war klar, dass Olian so manches auf dem Kerbholz hatte – und auch Schweizer Unternehmen in seine Geschäfte verwickelt waren. Gegen ihn ergeht im Oktober 1945 ein Ausweisungsbeschluss des Genfer Staatsrats. Olian muss die Schweiz 1948 verlassen.
Italien und zwei Filme von Orson Welles
Von der Schweiz geht Michel Olian nach Italien. Er macht in Rom Geschäfte und widmet sich dabei auch dem Film – so lernt er Orson Welles kennen. Ein im Feature zitierter Artikel der Römischen Zeitung „Momento Sera“ von 1951 über „Michele Olianski“ weiß unter anderem, dass Welles bei dem lettischen Geschäftsmann zu Gast war. Der Filmregisseur und Schauspieler solle „die Hauptrolle in einem von Olianski finanzierten Film übernehmen“. Dies war „Othello“, der durch Olians Finanzierung schließlich erst ermöglicht wurde. 1952 gewann der Film die Goldene Palme in Cannes.
Orson Welles’ nächster Film war „Mr. Arkadin“, in England erschien er unter dem Titel „Confidential Report“ (Vertraulicher Bericht), in Deutschland als „Herr Satan persönlich“. Der Film erzählt, wie der Abenteurer und kleine Gauner Guy van Stratten, der sich mit seiner Freundin Mily am Mittelmeer herumtreibt, als Zeuge eines Mordes von dem Opfer noch den Namen Gregory Arkadin vernimmt. Guy treibt den mysteriösen, schwerreichen Mann auf, indem ihm der Kontakt zu dessen Tochter Raina gelingt, in die er sich verliebt. Arkadin erzählt Guy eine seltsame Geschichte: Er leide unter Gedächtnisverlust und wisse nichts mehr von seiner frühen Vergangenheit. Er beauftragt Guy, Menschen zu finden, die ihn von damals kennen. Van Stratten gelingt dies, allerdings kommen diese Menschen anschließend ums Leben. Er erkennt, dass genau dies der Zweck seiner Mission war und weiß, dass nun auch sein eigenes Leben in Gefahr ist.
Olian als Mr. Arkadin
Michel Olian diente als Vorbild für Gregory Arkadin – davon sind jedenfalls Ingrid Traube und Kurt Pelda überzeugt. Möglicherweise hat Ingrids Ex-Ehemann Thomas, der frühere Schwiegersohn von Olian, aus dem Nähkästchen geplaudert: Er war – diese Ehe wurde 1958 geschieden – mit Olians Tochter wohl in dem Zeitraum verheiratet, in dem Olian und Orson Welles sich kannten. Laut dem Feature führten die Parallelen zwischen Olian und der Filmfigur Arkadin zum Zerwürfnis zwischen Welles und dem zwielichtigen Multimillionär.
Klar ist, dass Arkadins Handeln nicht einfach Olian unterstellt werden darf. Olian ließ [jedenfalls, soweit dies wohl bekannt ist] niemanden umbringen. Entscheidende Gemeinsamkeiten drängen sich andererseits auf: das Verbergen-Wollen der Vergangenheit, der wahren Identität.
Kurt Pelda konnte Olians Tochter Tatjana/Tanja im Rahmen seiner Recherchen nicht für ein Interview gewinnen. Er sprach sie nur am Telefon, wobei sie, so der Journalist im Feature, leugnete, dass ihr Vater für die Nazis gearbeitet habe und dass Orson Welles einen Film über ihn gedreht habe. Von den (Pelda: „unübersehbaren“) Parallelen zwischen Michel Olians Leben und der Handlung von „Mr. Arkadin“ wollte Tanja nichts wissen.
Olian und sein Seelenarzt
Michel Olian war während seiner letzten Lebensjahre in psychiatrischer Behandlung. Zu seinem Arzt, den Bernhard Pfletschinger für das Feature gesprochen hat, hatte er eine besondere Beziehung: Dr. Emile Rogé ist der gleichnamige Sohn eines früheren langjährigen Geschäftspartners und engen Freundes von Michel Olian (diese Beziehung wird im Feature auch behandelt). Hat der jüngere Rogé von den dunklen Geschäften seines Vaters und seines Patienten gewusst? „Mein Vater und Michel Olian waren Spieler. Sie spielten mit allem, mit Geld, ihrem Leben, Frauen …“, sagt er. Nach Rogés Einschätzung war Michel Olian psychisch krank. Er sei eine der ersten Testpersonen für Antidepressiva gewesen. Rogé sieht in den beiden Freunden „keine Gauner, sondern Abenteurer. Sie machten tausend Dummheiten“ und seien zur „Generation Der große Gatsby“ zu zählen. Trotz auch vorhandener Rivalität sei die Beziehung zwischen Olian und seinem Vater „unglaublich affektiv“ gewesen. „Ich liebte Michel Olian sehr. Aber man kann niemanden nur mit Liebe heilen … Er war unfertig, dieser Mensch.“
Das Feature hat streckenweise Züge eines Hörspiels, nicht zuletzt, weil es Auszüge aus dem Hörspiel „Mr. Arkadin“ nach Orson Welles, inszeniert von Ulrich Gerhardt, verwendet. Von Beginn an werden zudem kurze Erzählungen „im Märchenton“ („Es waren einmal ein reicher Mann und seine wunderschöne Tochter …“) eingestreut, mit einem kurzen Abriss der Handlung von „Mr. Arkadin“ und von Michel Olians Leben.
Bernhard Pfletschinger, der Autor diese Features, ist Dokumentarfilmer und schreibt fürs Radio. Zuletzt wurde von ihm das Feature „Wieso Herr Ziegenfuß nach Afrika muss“ gesendet. Für den WDR schrieb er die kleine Hörspiel-Krimi-Reihe um den Kommissar Henry Forelle.
Nachgedanken: An der schlechten Quellenlage zu Michel Olian hat sich seit dem Entstehen des Features wenig geändert. Bei Google-Suche zu Michel Olian findet man schweizerische Fernsehbeiträge oder Quellen, die sich mit Orson Welles und dessen Beziehung zu Michel Olian befassen – aber auch online-Dokumente aus der Datenbank „Diplomatische Dokumente der Schweiz“ (dodis.ch, dort hauptsächlich Dokumente der Bergier-Kommission). Dazu durchaus interessante zeitgenössische, nach dem US Freedom of Information Act (FOIA) freigegebene Dokumente US-amerikanischer Provenienz (1940er/50er Jahre, schwer leserlich).
Frank Garbelys 2003 erschienenes Buch „Evitas Geheimnis. Die Nazis, die Schweiz und Peróns Argentinien“ widmet Michel Olian ein Kapitel und nennt die Behandlung seines Falls in der Schweiz „eine der größten Betrugs- und Vertuschungsaffären“ des Landes. Olian sei „einer der größten Devisenschmuggler und Geldwäscher der Nazis“ gewesen (siehe das Vorwort).