hr2-kultur, 15. November 2015

Asylrealität in Deutschland

Ein Feature zeigt Schwachstellen auf

Obwohl in Deutschland Unterbringungsmöglichkeiten für Flüchtlinge verzweifelt gesucht werden, trifft Feature-Autor Achim Nuhr in einem abgelegenen Flüchtlingsheim im Wald auf „gespenstische Leere“. Einer der ehemaligen Bewohner der früheren Kaserne, die die westfälische Kleinstadt Rüthen für Asylsuchende bestimmt hat, ist der 2013 aus seiner Heimat geflohene Eritreer Robbe. Er erzählt Nuhr von den Bedingungen in diesem Heim – weit ab von allem, wo die Bewohner auf sich allein gestellt waren und zum Beispiel die Entfernung zum nächsten Supermarkt 10 Kilometer beträgt: Unter anderem wurde das Wasser abgestellt, so dass die Flüchtlinge, um Teller zu spülen und für die Toilette, Wasser aus dem Fluss holen mussten. Niemand außer Freiwilligen habe sich um die Flüchtlinge gekümmert, obwohl laut dem Rüthener Bürgermeister Peter Weiken im Gespräch mit Achim Nuhr ein Hausmeister einmal täglich vor Ort sein sollte. Nur dank freiwilliger Helfer kam Robbe, der seit 2014 in Deutschland ist, an ein Fahrrad, wurde im Fußballverein angemeldet und schließlich Mieter einer Wohnung. 
Das einsame Flüchtlingsheim mitten im Wald haben fast alle Bewohner verlassen. Wohin sie gingen, ist unbekannt. Die Übrigen müssen sich selbst versorgen. Bürgermeister Weiken sagt, er erwarte Eigeninitiative von den Flüchtlingen.

Welches Bundesland wie viele Flüchtlinge aufnehmen soll, berechnen Bund und Länder jedes Jahr neu. Dafür gibt es den sogenannten „Königsteiner Schlüssel“. Ganz vorne liegt das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen, das ca. 21 Prozent der Asylsuchenden aufnehmen soll, ganz hinten Bremen mit nur knapp einem Prozent.

Bund gibt vor, Länder und Kommunen machen

Für die Betreuung von Flüchtlingen erstellt die Bundesregierung die Richtlinien, die Erstaufnahme erfolgt durch die Bundesländer, die Unterbringung dann durch die Kommunen. Ein Beispiel für die chaotische Verteilung der Asylsuchenden gibt der Vergleich von Wuppertal und Düsseldorf: Das nahezu bankrotte Oberzentrum im Bergischen Land müsste laut Schlüssel halb so viele Flüchtlinge betreuen wie die Landeshauptstadt. In Wirklichkeit ist es umgekehrt, Wuppertal betreut 50 Prozent mehr Flüchtlinge als Düsseldorf.
Bundesweit haben die meisten Bürgermeister freie Hand, wie sie Asylbewerber unterbringen. In manchen Bundesländern (Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Hessen und Niedersachsen) gibt es keine Auflagen für kommunale Flüchtlingsunterkünfte. In anderen werden Standards empfohlen wie etwa sechs Quadratmeter Wohnfläche pro Bewohner. Hilfsorganisationen wie Pro Asyl loben Bundesländer mit verbindlichen Standards. Dazu zählt Baden-Württemberg: Dort sollen sich die Einrichtungen in einem bebauten Ortsteil oder im Anschluss daran befinden, mit öffentlichen Verkehrsmitteln vor Ort.
Ein Kritiker der gegenwärtigen Praxis ist der nordrhein-westfälische Innenminister Jäger, der im Feature zu Wort kommt: Der Bund müsse sich an den Lasten der Länder und Kommunen beteiligen, das bisher gültige System sei für die gegenwärtige große Zahl von Asylbewerbern nicht geschaffen. Immerhin hat der Bund auf dem Flüchtlingsgipfel vom Herbst 2015 zugesagt, sich zukünftig an der Erstaufnahme und an der Betreuung vor Ort zu beteiligen. Dies begrüßen die Kommunen, die beklagen, dass das Geld, das sie empfangen, ungerecht verteilt werde. Die Gemeinden blieben auf den Kosten für die Flüchtlingsbetreuung größtenteils sitzen, die meisten Landesregierungen würden nur einen Bruchteil erstatten: Im Bundesland Thüringen zum Beispiel habe Jena nur weniger als 50 Prozent ersetzt bekommen, andererseits bekämen andere Kommunen mehr erstattet als sie ausgeben. In Nordrhein-Westfalen seien die Finanzierungslücken noch drastischer: Das fast bankrotte Wuppertal bekam nur 12 Prozent seiner Kosten erstattet. Es werde aber sehr unterschiedlich gerechnet, sagt Innenminister Jäger. Selbst für Experten sei bei einem Vergleich verschiedener Bundesländer dieser „Mischmasch der Systeme“ (A. Nuhr) kaum zu durchschauen. 

BAMF ist überfordert

Und es ist viel zu viel liegen geblieben: fast 300.000 unbearbeitete Asylanträge beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Bei einer Versechsfachung der Asylanträge seit 2013 wurde das Personal nur um ein Drittel aufgestockt. Die Folge ist, dass Flüchtlinge viel zu lange in Heimen festgehalten werden und Plätze blockieren, die dringend für Neuankömmlinge benötigt würden. Heinz Drucks, ein Vertreter des Flüchtlingsrats NRW, einer Hilfsorganisation, betont, alle seine Klienten würden „länger als ein Jahr aufs Interview“ (Anhörung) warten und noch einmal viel zu lange auf ihr Ergebnis. Die Betroffenen hätten aber keine Chance, das zu beschleunigen. Beim Flüchtlingsgipfel in diesem Herbst versprach die Bundeskanzlerin immerhin eine Personalaufstockung fürs BAMF.

Was betroffene Flüchtlinge erleben

Hassan Mohammad (der Name wurde für das Feature geändert) aus Bangladesch lebt in Werl. Zu Hause ist er ein prominenter Journalist, der von religiösen Fanatikern bedroht wird. Er wartet seit 14 Monaten auf seine Anhörung und findet, dieser Zeitraum sollte doch reichen, um seinen Fall zu untersuchen. Jedoch: Ein anderer Flüchtling, ist aus dem Feature zu erfahren, wartet schon länger als anderthalb Jahre, ein dritter soll seine Anhörung schon nach kurzer Zeit gehabt haben, wartet aber seit acht Monaten aufs Ergebnis. Hassans Fall liegt beim BAMF. Dort heißt es, Ankömmlinge aus Syrien würden bevorzugt behandelt. Und es gelte Einzelfallprüfung, auch bei Fällen aus „sicheren Herkunftsstaaten“ wie Serbien oder Bosnien. Kurz vor Redaktionsschluss dieser Sendung, ist an deren Ende zu erfahren, wurde Hassan nach 15 Monaten endlich angehört, er wartet nun auf das Ergebnis.

Wie sich die Bürokratie in Deutschland verheddert, zeigt der Fall des Afghanen Enam Schah in Soest. Der heute Volljährige kam mit 15 Jahren nach Deutschland, weil in seiner Heimatregion die dort herrschenden Taliban seinen Vater und auch ihn selber bedrohten. Da Enam Schah minderjährig und unbegleitet nach Deutschland kam, gilt dies als Abschiebehindernis, der Junge erhielt eine Aufenthaltserlaubnis. Ein Asylantrag aber wurde abgelehnt, weil er bei seiner Ankunft minderjährig war und generell davon ausgegangen werde, dass Minderjährige nicht politisch verfolgt werden können.
Enam Schah möchte in seiner neuen Heimat arbeiten und nicht von Unterstützung abhängig sein, die er gegenwärtig von der Arbeitsagentur erhält. Und es gibt einen Unternehmer, der ihn ausbilden und als Fachkraft einstellen würde: Patrick Weber bildet gemeinsam mit seiner Frau einen kleinen Gebäudereinigungsbetrieb. Er beantragte eine öffentliche Fördermaßnahme, um Lücken zwischen Ausbildungsanforderungen und Voraussetzungen des Auszubildenden – der Afghane schloss in Deutschland die Schule mit Klasse 10 ab – zu schließen. Wegen angeblich mangelnder Sprachkenntnisse lehnte die Agentur für Arbeit dies ab. Patrick Weber wurde überdies gesagt, deutsche Bewerber gingen vor. Der Unternehmer hat aber längst die Erfahrung gemacht, dass er solche nicht bekommt. Und selbst Arbeitsministerin Andrea Nahles, die eine Rekordzahl an offenen Stellen in Deutschland verkünden konnte, sprach sich im Fernsehen dafür aus, dass die Arbeitsagentur für die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt einen Beitrag leisten sollte. Enam Schah, dessen Deutschkenntnisse angeblich nicht ausreichen, bekam einen dritten Sprachkurs verordnet. Heinz Drucks vom Flüchtlingsrat NRW findet, eigentlich offenstehende Ausbildungsmöglichkeiten würden mit fadenscheinigen Argumenten torpediert.

Vorbildliches Wuppertal

Gibt es Kommunen, die ihre Hausaufgaben machen? Für Pro Asyl ist Wuppertal „bundesweit vorbildlich“, obwohl die Stadt pleite ist und sich als Schlusslicht bei der Kostenerstattung durch das Land sieht. In der „Großstadt im Grünen“ arbeiten Ämter eng zusammen und schaffen es, Asylbewerber zügig zu integrieren. Laut dem Integrationsbeauftragten Jürgen Lämmer profitiert Wuppertal von der Umsetzung von Vorhaben, die noch auf die Asylbewerberströme aus den 1990er Jahren zurückgehen: Ziel ist dezentrale Unterbringung, was bedeutet, dass vier Fünftel aller Flüchtlinge in ganz normalen Wohnungen leben sollen. Dabei komme der Kommune ein größerer Wohnungsleerstand entgegen. Sie schließt bevorzugt mit Einzelvermietern Mietverträge ab, das sei sogar deutlich günstiger als Gemeinschaftsunterkünfte. Durch die Unterbringung von Asylbewerbern im Stadtgebiet komme es zu Kontakt mit Einheimischen, so dass neben spezialisierten Beratern auch Nachbarn helfen. Dadurch, dass die Leute arbeiten, werde der Haushalt entlastet.

Von dem Feature-Autor Achim Nuhr wurde unter anderem gesendet: das ARD Radiofeature „Der Staat und seine Trojaner“ (2014) und „,Raten‘ oder Raten? Das (un)heimliche Treiben der Ratingagenturen“ (2013). „Kopfpauschale“ ist in einer kürzeren Fassung am 8. Dezember um 19.15 Uhr im Deutschlandfunk zu hören.

Kopfpauschale

Die deutsche Asylbürokratie und ihre Folgen

Von Achim Nuhr
Sprecher: Torben Kessler, Martin Rentzsch und andere
Regie: Marlene Breuer
hr/DLF/SWR 2015

hr2-kultur, Reihe: Feature
15. November 2015, 18.05 Uhr, 55 min.