Zum 75. Jahrestag des Überfalls von Hitler-Deutschland auf die Sowjetunion wurde ein Feature wiederholt, das mittlerweile selbst zum historischen Dokument geworden ist: 1986 begab sich der Autor Paul Kohl, Axel-Eggebrecht-Preisträger des Jahres 2014, auf die Spuren der Heeresgruppe Mitte, die 1941 auf der Strecke Brest – Minsk – Smolensk Richtung Moskau vordrang. Er sprach mit Wehrmachtssoldaten, die an diesem Feldzug teilnahmen – für das Feature wurden ihre Namen geändert – sowie mit überlebenden sowjetischen Zeitzeugen und Kundigen der Geschichte.
Angriff auf Brest
Am 22. Juni 1941, einem Sonntag, begann „Unternehmen Barbarossa“ unter anderem mit dem Beschuss und der schließlichen Eroberung der Festung von Brest, das auf der sowjetischen Seite (Weißrussische Sowjetrepublik) der damals faktischen Grenze lag. Von 3000 die Festung verteidigenden Soldaten, Frauen und Kindern überlebten nur 17. Eine von ihnen war Anastasia Archipowa, die Frau eines Verteidigers, die 45 Jahre später erzählt, wie sie, nachdem die Deutschen eingedrungen waren, mit ihren zwei kleinen Kindern herausgeführt und unter die Geschütze – große Kanonen – gelegt wurde, um die Verteidiger zum Aufgeben zu bewegen. „Bei jedem Schuss war mir, als würde mein Gehirn aus dem Kopf herausquellen. Den Kindern kam das Blut aus den Ohren und aus dem Mund.“ Ihre dreijährige Tochter starb, ihr fünfjähriger Sohn „wurde Invalide. Seitdem ist er taub.“
Den Vernichtungsplänen des Nazi-Regimes folgte ein mörderisches Vorgehen der Invasionsarmee nicht nur gegen Juden, auch gegen politische Kommissare der KPdSU, Kriegsgefangene und die Zivilbevölkerung. Ein Zeugnis dafür ist die im Feature zitierte „Ereignismeldung UdSSR“ vom 24. Juli 1941, die von einer „Großaktion gegen Juden und andere kommunistisch belastete Elemente“ spricht, bei der von 2000 Personen über 1000 sofort liquidiert wurden. In Baranowitschi (zwischen Brest und Minsk gelegen) habe es „Aktionen gegen bolschewistische Agenten, politische Kommissare usw.“ gegeben, bei denen „381 Personen liquidiert“ worden seien.
„Der Russe ist eben zu vernichten. Nicht zu besiegen, sondern zu vernichten.“ Mit diesem Bewusstsein nahm auch Willi K., einer der deutschen Zeitzeugen in diesem Feature, an dem Feldzug teil. „Wir sagten damals bolschewistische Horden, so wurden sie genannt.“
„Wie im KZ“
Nicht weit von Baranowitschi, im Ort Berosowka, wurde im August 1941 ein Kriegsgefangenenlager errichtet. Paul Kohl lässt sich von einer einheimischen Lehrerin durch Grabreihen führen und von dem Lager erzählen. Über 88.000 Menschen sollen dort ermordet worden sein. Kriegsgefangene, die nach dem Eintreffen am Bahnhof bereits zu schwach waren, um das Lager zu erreichen, wurden gleich unterwegs erschossen. Die Baracken waren nicht wintertauglich. Viele Gefangene mussten im Winter auch unter freiem Himmel liegen und erfroren. Schwer arbeitende Gefangene wurden bei Ermüdung erschossen. Das Brot war mit Sägemehl vermischt, das Fleisch vergiftet. „Im Jahre ‘42 und ‘43 wurden die sowjetischen Kriegsgefangenen in Gaswagen gesteckt. In diesen Gaswagen wurden hier täglich 600 bis 700 Menschen getötet“, so die Erläuterungen für den Autor. „Wie im KZ war das ja praktisch“, untermauert im Feature der Zeitzeuge Werner A., „Casino-Unteroffizier“, der mehrmals in diesem Lager war.
Konzentrationslager errichtete die Wehrmacht im Laufe ihres Vordringens in großer Zahl: Beispielsweise fünf in Witebsk, das am 11. Juli 1941 besetzt wurde. In einem dieser Lager wurden bereits in der ersten Woche 60.000 Gefangene erschossen. In den Ende Juli 1941 besetzten Dnjepr-Städten Mogilew und Orscha entstanden zusammen 14 Konzentrationslager.
Bis vor Moskau
Anfang Dezember 1941, nur wenige Kilometer vor Moskau, kam der Vormarsch der Wehrmacht zum Erliegen. Es herrschte Kälte von unter minus 50 Grad. Klaus N., Flakartillerist, der das miterlebt hat, sah ein Schild: „Nach Moskau 7 km. […] Bis dahin sind wir gekommen […], und dann war für uns aus.“ Er erinnert sich an einen Angriff von russischen Frauenbataillonen. Die Gegenoffensive der Roten Armee trieb von nun an die deutschen Truppen zurück.
Rückzug und Zerstörungen der Wehrmacht
Im Lauf ihres jahrelangen Rückzugs hinterließ die Wehrmacht zerstörte Erde und Städte: In Kalinin an der oberen Wolga (das heute wieder Twer heißt) sprengte sie alle noch stehenden Gebäude. „Mitsamt den Menschen darin“ (Paul Kohl). In Wjasma (zwischen Smolensk und Moskau gelegen) blieben von über 5000 Häusern 51 übrig. Nur 5000 von 35.000 Einwohnern überlebten. Was von Rschew – nördlich von Wjasma und wie dieses im Oktober 1941 besetzt – blieb, sah in der Erinnerung von Erich D. aus „wie eine Gespensterstadt: nur Schornsteine. Alle anderen Häuser abgebrannt. […] Und so in mehreren Städten: nur die Schornsteine, die fielen auf. Fuhren wir da durch: eine Stadt mit Schornsteinen. Die Kamine. Die standen da.“ Der Augenzeuge Klaus N. sagt, sie hätten alles angezündet, was brennbar war, wie Häuser oder Getreidemagazine. Holzhäuser brannten natürlich leicht. Alles, was den Russen von Nutzen war, für Unterkunft oder Verpflegung, sollte vernichtet werden. „Habe auch Häuser angezündet, alles was von uns verlangt wurde. Musste ich machen.“
Ein Beispiel: das Dorf Bajki
In der Nähe von Brest stand das Dorf Bajki. Die deutschen Truppen brannten es im Januar 1944 mitsamt den Bewohnern nieder. Nur Wenige konnten sich retten. Zweien von ihnen, Anna Rugjanowa und Nikolai Schabjona, ist Paul Kohl begegnet. Sie erzählen, was sich damals zugetragen hat: Sie wurden in eine Scheune getrieben, die die Deutschen anzündeten. Anna Rugjanowa: „Wir fingen an zu schreien. Da haben sie auf uns geschossen. […] Ich hatte die Kleine auf dem Arm. Dann haben sie das Tor verriegelt. Und wieder schossen sie auf uns.“ Ihre Filzstiefel fingen an zu brennen, ihre beiden Kinder wurden erschossen. „Später dann, ich weiß nicht wie, saß ich draußen im Schnee.“ Nikolai Schabjona ergänzt, dass sie das verrammelte Scheunentor in letzter Sekunde von innen aufbrechen und fliehen konnten. „Alles brannte um uns her, stürzte zusammen. Wir wären beinahe verbrannt, erstickt. […] Die Faschisten waren noch im Dorf. Ich konnte aber in den Rauchwolken entkommen.“
Weil der betagte Zeitzeuge einen kurzen Schwächeanfall hat, bringen ihn seine Begleiter nach Hause. Beim Abschied überreicht Nikolai Schabjona Paul Kohl eine große Schüssel voller frisch gepflückter Birnen. Seine Worte: „,Und grüßen Sie das deutsche Volk. Und sagen Sie, wir möchten in Frieden miteinander leben.‘ […] Beim Abschied umarmt mich der Alte.“
Das Feature dokumentiert weitere Beispiele für das menschenverachtende, mörderische Handeln der in die UdSSR eingedrungenen Armeen. Der Hörer wird auch Zeuge dafür, dass der alte Geist, der die Planer und Invasoren angetrieben hat, unter einigen der von Paul Kohl befragten deutschen Teilnehmer am Ostfeldzug lebendig blieb. Da wird eben bedauert, dass der Krieg verloren ging, da wird auch Jahrzehnte später beteuert, dass „wir die russische Erde gebraucht haben“, oder es werden die Zerstörungen von Minsk und vieler anderer Städte geleugnet.
Andererseits ist auch im Feature zu hören, wie überlebende sowjetische Zeitzeugen in Erinnerung behielten, dass nicht alle Deutschen sich wie Bestien aufführten: Von Mitleid unter Wachleuten erzählt ein ehemaliger Panzerfahrer, der im KZ saß. Eine Dolmetscherin in Witebsk, ebenfalls Zeitzeugin, verdankt ihr Leben, wie sie sagt, einem deutschen Soldaten, der eben keine Zivilisten ermorden, sondern sie schonen wollte, indem er sie verscheuchte, bevor seine Kameraden eintrafen.
Die erschütternden Inhalte und Zeitzeugnisse werden in einer ruhigen, langsamen Erzählung wiedergegeben. Durchgehend begleitet wird sie vom Ticken des Metronoms von Radio Moskau, das Paul Kohl in der zur Gedenkstätte umgestalteten Festung von Brest hörte. Dazu kommt eingefangener Originalklang der Reise des Autors, wie fahrende Züge, Bahnhofsatmosphäre oder eine stimmungsvolle Hochzeit in Minsk im Hotel Planeta. Die deutschen Zeitzeugen sind bisweilen schwer zu verstehen.
Ergänzend lesen: Zum Beispiel einen Text von Andreas von Westphalen, der zusammenträgt, warum „Barbarossa“ „zu den größten Kriegsverbrechen der Menschheit“ gehört.