In den überraschend zahlreichen Sendungen zum 100. Geburtstag des Schriftstellers, Malers und Filmemachers Peter Weiss war mehrmals zu hören, der am 8. November 1916 geborene und 1982 gestorbene Exil-Künstler, der von 1939 an in Schweden lebte, sei heute vergessen. Wenn mit den vielen Sendungen diesem Vergessen entgegengewirkt werden sollte, könnten sie etwas bewirkt haben.
Unter anderem wurde ein Feature wiederholt, das im vergangenen Jahr zum 50. Jahrestag der spektakulären Uraufführung des „Oratorium“ genannten Auschwitzdramas „Die Ermittlung“ gesendet wurde. Der Autor Bernd Dreiocker rückt zum einen die Entstehungsumstände dieses außergewöhnlichen Textes in den Mittelpunkt. Dank heute noch lebender Zeitzeugen wird außerdem der Tag der Uraufführung des Stücks vergegenwärtigt – eine Premiere, die in beiden Teilen Deutschlands an fünfzehn Bühnen gleichzeitig stattfand.
Peter Weiss und der Auschwitzprozess
Ab Dezember 1963 fand in Frankfurt am Main der Aufsehen erregende (erste) Auschwitz-Prozess gegen 22 Angeklagte – bis auf einen Funktionshäftling alles ehemalige Angehörige der Lager-SS – statt. Peter Weiss war dort Prozessbeobachter und, so Dreiocker, „fassungslos über die Geschichten, die sich hinter den Aussagen der Zeugen auftun“. Weiss nahm auch an einer Ortsbesichtigung des Gerichts teil – seine erste Reise nach Auschwitz. Der Schriftsteller wählte Auschwitz als „Meine Ortschaft“ – für eine „Atlas. Deutsche Autoren über ihren Ort“ betitelte Anthologie des Verlegers Klaus Wagenbach. Von seinen Lagereindrücken notierte Peter Weiss unter anderem die Frage: „Wie ist es möglich, daß die Angeklagten so lange in Freiheit leben konnten?“
Verarbeitung zu einem Drama
Die Beschäftigung mit Auschwitz, der Geschichte des Lagers und dem Frankfurter Prozess, bewirkte, dass für Weiss ein an Dantes Göttlicher Komödie angelehnter Theaterentwurf namens „Inferno“ mit den Eindrücken des Konzentrations- und Vernichtungslagers verschmolz. Bereits im Februar 1964 schickte er aus Schweden an seinen Lektor vom Suhrkamp Theaterverlag, Karlheinz Braun, einen ersten Stücktext zum Thema Auschwitz. Eine Lektüre, die Braun, der sich in der Sendung erinnert, „für ein paar Tage krank machte.“
Der damalige Verlagsleiter ruft den zeitlichen Kontext Anfang der 1960er Jahre in Erinnerung: Verdrängung der NS-Zeit, alte Nazis in hohen Positionen. Das Theater habe sich am ehesten der unbewältigten NS-Vergangenheit angenommen – wie Max Frischs „Andorra“ oder Rolf Hochhuth mit seinem im Uraufführungsjahr 1963 ebenfalls Aufsehen erregenden „Stellvertreter“. In diesem Umfeld traf Peter Weiss’ Auschwitz-Stück, in dem der Autor Protokolle aus dem Frankfurter Prozess auswählte und verdichtete, auf großes Interesse der Bühnen. Die Theater „schlugen sich“ laut Karlheinz Braun um die Premiere, so dass eine „offene Uraufführung“ beschlossen wurde, an der jedes Theater, das wollte, teilnehmen konnte. Interesse meldeten zum Beispiel Erwin Piscator in West-Berlin, Hanns Anselm Perten in Rostock und das Hans-Otto-Theater in Potsdam. Als Tag der Uraufführung wurde schließlich der 19. Oktober 1965 festgelegt.
Die Premiere rückt näher
Bernd Dreiocker: „So kommt es, dass sich für den 19. Oktober 1965 in den Theatern der Bundesrepublik und der DDR eine gemeinsame, bislang einmalige Ringuraufführung anbahnt. Und das in Zeiten von deutsch-deutscher Abgrenzung und Kaltem Krieg, Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik.“
Der damalige Potsdamer Oberspielleiter Peter Kupke erinnert sich im Abstand von 50 Jahren, „[…] das war ein Stück, wo man erstens erschlagen war von dem, was da zusammengeschrumpft war in der Fassung von Peter Weiss. […] Und man wusste überhaupt nicht, wie man das [,Oratorium in 11 Gesängen‘] spielen soll.“ Das Stück habe man sich „bei der Lage, die auf dem Stückemarkt herrschte“, nicht entgehen lassen können, sagt Kupke – durch die Reglementierung im sozialistischen Staat war die Zahl der interessanten Autoren, die in der DDR gespielt werden konnten, überschaubar.
Mehr als ein Dutzend Städte bereitete sich auf die Ringuraufführung vor. Die Lage wurde komplizierter, als Peter Weiss sich auf einem internationalen Schriftstellertreffen im Mai 1965 in Weimar dazu bekannte, Sozialist zu sein. Als daraufhin im Westen Anfeindungen zunahmen, veröffentlichte Weiss ein Statement zu seiner künstlerischen Position. Er sehe sich als politischen Künstler und: „Zwischen den beiden Wahlmöglichkeiten, die mir heute bleiben, sehe ich nur in der sozialistischen Gesellschaftsordnung die Möglichkeit zur Beseitigung der bestehenden Missverhältnisse in der Welt.“ Damit war der Autor im Westen als Kommunist abgestempelt.
Aufführungen: Potsdam und Ost-Berlin
Peter Kupke erinnert sich an die Proben und die Inszenierung in Potsdam: „[…] es passierte, dass uns der Text zunächst überwältigt hat. Es hat Proben gegeben, auf denen wir vor Entsetzen und vor Verzweiflung, vor Weinen nicht weiterkonnten. Einfach weil wir jetzt den Text, den wir schon kannten, weil wir ihn gelesen hatten, plötzlich hörten“. In der Inszenierung dann, in der die Schauspieler ihren Text im Vortragsstil sprachen, sollte, so Kupke in der Sendung, „nicht eine Art von Andeutung einer Gerichtsverhandlung“ gespielt werden. Von der Premiere erzählt der damalige Regisseur, dass „Ergriffenheit im Saal uns jetzt auch wieder ergriff.“ Das Publikum war gebeten worden, nach Ende des Stücks nicht zu applaudieren, und tatsächlich blieb es still. „Es blieb so totenstill, das war unglaublich. Dann standen die Schauspieler ganz langsam auf und verließen die Bühne. […] Und als die Bühne leer war, erhoben sich die Zuschauer auch ganz ruhig, und die Türen öffneten sich, die gingen raus. Es wurde überhaupt nicht gesprochen. […] Das haben wir dann einige Male erlebt, diese Wirkung, die ich sonst nie im Theater erlebt habe.“ Unter den Schauspielern in Potsdam war der spätere Regisseur und Intendant Thomas Langhoff.
An insgesamt fünfzehn Bühnen in der Bundesrepublik, der DDR und West-Berlin wurde „Die Ermittlung“ am 19. Oktober 1965 uraufgeführt. In der DDR sei, so wurde berichtet, die Wirkung beim Publikum überwältigend gewesen. Auf Dramaturgie und Inszenierung geht eher das westliche Feuilleton ein. Bernd Dreiocker: „Gestritten wird nicht zuletzt darüber, ob Auschwitz auf dem Theater überhaupt dargestellt werden müsse und ob es mit den bekannten Mitteln darstellbar sei.“
Die (Ost-) Berliner Akademie der Künste veranstaltete eine Lesung des Stücks in der Volkskammer der DDR, wo der Autor Peter Weiss und sein Verleger Siegfried Unseld die Uraufführung erlebten. In den Worten von Karlheinz Braun war es „eine politische moralische Manifestation des besseren Deutschlands, wie die DDR sich verstanden hat.“ Es lasen Schauspieler des Berliner Ensemble wie Helene Weigel, Ernst Busch und Erwin Geschonneck sowie Stephan Hermlin und andere Schriftsteller, dazu Politiker wie Alexander Abusch – viele von ihnen Emigranten, manche hatten selber im KZ gesessen. Im Westen waren die Reaktionen auf diese Veranstaltung am kritischsten.