Als die Journalistin Simone Hamm nach New York City zog, lernte sie aus eigener Anschauung die Folgen der Anschläge des 11. September 2001 kennen – allgegenwärtige Überwachung, verbunden mit einer beispiellosen Datensammelwut. Wiederholt am 15. Jahrestag der Attentate des 11.9., ist dieses Feature unverändert aktuell.
Die Einreise in die USA ist für Ausländer eine lang andauernde Prozedur: Immer wieder müssen die gleichen Fragen beantwortet werden – wie zum Beispiel, ob der oder die Einreisende Mitglied einer nationalsozialistischen Partei ist. Diese Fragen, so Simone Hamm, musste sie schon daheim beim Antrag auf ein Journalistenvisum, dann auf einem Formular für den Zoll im Flugzeug und nun nocheinmal bei der Einwanderungsbehörde am New Yorker Flughafen beantworten. Dabei hatte auch die Fluglinie bereits 34 Datensätze wie Telefon- und Kreditkartennummer weitergegeben. Es folgt das Scannen der Abdrücke aller zehn Finger, zweimal wird sie fotografiert. „Überall Kameras. Polizisten.“
„Gefühl permanenter Kontrolle“
Schon während der ersten Tage ihres Aufenthalts lernt Simone Hamm Gabriela Miller, Finanzexpertin an der Wallstreet, kennen. Gabriela Miller ist nicht ihr richtiger Name, und der O-Ton ihrer Stimme wurde für das Feature nachgesprochen, so sehr fürchtet die junge Frau, erkannt zu werden. Für ein Gespräch mit Hamm wählt „Gabriela Miller“ ein kleines Lokal, in dem niemand sie kennt. Die Autorin: „Sie wird überwacht und sie weiß, dass sie überwacht wird. Denn sie hat der Überwachung selbst zugestimmt: der ihres Handys, PCs, ihrer Emails. Sogar ihre Passwörter hat sie nennen müssen.“ Im Büro spricht sie niemals offen mit Kollegen. Alles kann mitgehört werden, und sie weiß das. „Das ist auf Dauer zermürbend“, so die Betroffene. Gabriela kann dreimal im Jahr unangekündigt zu einem Drogentest gerufen werden. Ohne die Zustimmung zu diesen Maßnahmen wäre sie nicht eingestellt worden. „Das Gefühl permanenter Kontrolle“ mache sie fertig. Ihr Diensttelefon muss sie immer dabei haben, sie muss jederzeit erreichbar sein. Gleichzeitig kann sie über das Handy ständig geortet werden.
Wohnung mieten nur bei Offenlegen des Kontostands
Als Simone Hamm in New York eine Wohnung mieten möchte, muss sie für den Makler ein Formular ausfüllen, „in dem ich meine finanziellen Verhältnisse offenlegen soll.“ Entscheidend für die Vermieter sind die Informationen der Kreditauskunft („credit report“). Dazu kommt eine Erklärung über die Einkommensverhältnisse. Das beinhaltet nicht nur das Jahreseinkommen, sondern auch Vermögen, Geldanlagen und monatliche Ausgaben: „Das kann eine Hypothek sein“, erläutert der Makler, „Ihr Lebensunterhalt, alles, was Sie über die Kreditkarte abrechnen. Unterhaltszahlungen. […]“ Dazu kommen noch der Kontostand und die Steuererklärung des vergangenen Jahres. Fazit der Autorin: „Ich wundere mich wirklich, was die NSA noch zu tun hat“, wo man doch bereits „einem wildfremden Makler“ gegenüber „die persönlichsten Dinge über sich preisgeben“ muss.
Kein Job ohne positive Kreditauskunft
Der „credit report“ kommt auch bei der Bewerbung um einen Job ins Spiel. Viele Firmen haben Informationen über die Kreditwürdigkeit von Bewerbern, die sie potenziellen Arbeitgebern verkaufen. Simone Hamm spricht mit dem Golfkriegsveteran Emmett Pinkston, einem anerkannten Antiterror-Experten, der die Armee verließ und einen Wachdienst gründete. Das Geschäft lief nicht gut, und so konnte er den Kredit, den er aufgenommen hatte, lange nicht abzahlen. Dies machte ihn für den credit report zu einer unzuverlässigen Person. Als Folge bewarb er sich lange vergeblich um einen Job – heute [Stand Erstsendung des Features 2014] trägt er Pakete aus.
Was Arbeitgeber dürfen
Weitere Praktiken von Arbeitgebern erfährt Simone Hamm von dem Arbeitsrechtler Lewis Maltby: Von der Überwachung auch des Privatlebens durch das Firmenhandy war schon die Rede. Der Experte nennt als weiteres Beispiel die Ausstattung der Arbeitsräume mit Kameras, die hochsensible Mikrofone enthalten. Gegen die „permanente Bespitzelung“ (Hamm) könne man sich, so Lewis Maltby, nicht wehren. „Man muss noch nicht einmal zustimmen“, sagt Simone Hamms Gesprächspartner. Die Autorin: „Alles darf mitgeschnitten werden. Solange nur eine einzige Person im Raum darüber Bescheid weiß und damit einverstanden ist. Diese Person ist meist der Chef.“ Von Überwachungskameras ist nach US-Recht nur ein Raum ausgenommen: die Toilette. Der Grund, so Maltby, warum US-Beschäftigte sich nicht besonders um Überwachung kümmerten, sei ihr schwerer Alltag. Sie arbeiteten hart, „haben Angst, entlassen zu werden, machen sich Gedanken, wie sie ihre Rechnungen zahlen können, wie sie für ihre Kinder sorgen können.“
Die Autorin führt ein Gespräch mit einem Verkäufer von Überwachungstechnik, mit der Angestellte auch durch versteckte Kameras bespitzelt werden. In einer anderen Firma wirbt ihr Gründer, ein schillernder Exilrusse, der Internetsicherheitsexperte ist, für sein System, das nach seinen Worten die geleistete Arbeit von Angestellten genau verfolgt. Wem es an Produktivität mangele oder wer sich anderen Dingen als der eigentlichen Arbeit widme, laufe Gefahr, vom Chef aussortiert zu werden. Angeblich bescheinigten ihm seine Kunden eine Produktivitätssteigerung zwischen fünfzehn und vierzig Prozent, „weil man die typischen Zeitverschwender im Büro eliminiert hat.“
„Sie denken, sie sind frei“
Simone Hamm fragt sich: „Wie ist es möglich, dass sich eine ganze Nation, die doch sonst die Freiheit so groß auf ihre Fahnen geschrieben hat, abhören lässt?“
Die Soziologin Saskia Sassen sagt ihr: Weil wir Konsumenten geworden seien, „haben wir die Fähigkeit verloren, selbst über uns zu bestimmen, freie Menschen zu sein. […] Wir überlassen es anderen zu bestimmen, was gut für uns ist“. Hamm: „Wenn der Staat also das Ausspionieren selbst übernimmt, und es auch Ämtern, Firmen und Arbeitgebern erlaubt, so wird das schon seine Richtigkeit haben.“ Dies entspreche, sagt Saskia Sassen, der klassischen Bedeutung des Wortes Tyrannei. „Nicht, dass man ins Gefängnis geworfen wird, obwohl auch das passiert. – Nein, Tyrannei bedeutet, dass die, die den Staat lenken, zu wissen meinen, was gut für die Bürger ist. Sie behandeln sie wie Kinder und nicht wie Erwachsene.“ Die meisten Bürger vertrauten ihrem Staat, seien daher ohne Arg und gäben immer mehr von sich preis – an Firmen wie Google, Amazon oder Netflix. Sassen: „Sie denken, sie sind frei. Aber sie sind es nicht.“
Weiter in Simone Hamms Erkundung des neuen Amerika: Ein Besitzer von zwei Restaurants kann dank seines i-Pads durch jede Kamera in beiden Lokalen blicken. Seine Angestellten wissen das.
Oder: Die übersteigerte Paranoia der US-Amerikaner, die sich seit dem 11. September 2001 breit gemacht hat, lernt ein deutscher Fotograf kennen, der in einem Polizeiauto beinahe erstickt wäre, nachdem ihn Cops mit Gewalt aus einem Zug geholt hatten. Eine Mitreisende glaubte, ihn arabisch sprechen und das Wort „Bombe“ gehört zu haben. Der Fotograf hatte natürlich deutsch gesprochen.
Nach diesen Zeugnissen ihrer Gesprächspartner wurde Eric Schmidt und Jared Cohens Buch „Die Vernetzung der Welt“ zur bevorzugten Lektüre der Autorin. Cohen ist, wie der bekanntere Schmidt, an verantwortlicher Position in der Google-Welt. Und es sorgt für Verblüffung bei Simone Hamm, dass ein Mann wie Eric Schmidt, „das Gesicht von Google“, der mit seinem Ko-Autor die „Vernetzung der Welt“ feiert und von der Aufhebung der Privatsphäre spricht, gleichzeitig (O-Ton im Feature) davor warnt: „Man sollte sich dagegen wehren. Dagegen kämpfen, dass die Privatsphäre verletzt wird. […] Ist erstmal ein System der Überwachung installiert, wird man es so leicht nicht wieder los.“
Zitate in diesem Text nach dem Manuskript.
Die Autorin Simone Hamm wurde in diesem Jahr für das Feature „Vor dem Gesetz – Justizskandale in New York“ (DLF 2015) mit dem Radiopreis der RIAS Berlin Kommission ausgezeichnet. Ihr neustes Feature ist „Einhundert Jahre Melancholie. Mircea Cǎrtǎrescu, Schriftsteller aus Bukarest“ (WDR 2016).