SWR2, 13. Juni 2016

Der größte Musiker des 20. Jahrhunderts

Nach Meinung eines Kollegen – eine Sendereihe zum Hermann-Scherchen-Jubiläum

Dieser Jahrestag ist tatsächlich ein Doppeljubiläum: Vor 50 Jahren, am 12. Juni 1966, starb der Dirigent Hermann Scherchen, der sich wie kein Zweiter für die Pflege neuer Musik eingesetzt hat. Er starb kurz vor seinem 75. Geburtstag, und so können Fans schon wenige Tage später, am 21. Juni, den 125. Geburtstag feiern. Hermann Scherchen sei heute nur noch Kennern bekannt, meint Werner Klüppelholz, der Autor dieser fünf Musikstunden-Folgen. So bestimmt würde ich das nicht ausdrücken, bleibt aber zu hoffen, dass die überschaubare Zahl von Sendungen, die anlässlich dieses Jubiläums zu hören sind, dem Vergessen entgegenwirken.

Kindheit und frühe Jahre

Als Kind zeigt sich bei dem aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Hermann Scherchen ein erstaunliches Talent für die Musik. Er beginnt Geige zu spielen, kann sich aber mit einem „Wunderkind“, das er eines Tages hört, nicht messen. Dennoch bringt er es nach dem Realschulabschluss zu Aushilfen in Berliner Orchestern, er liest große Philosophen und lernt eine Mahler-Partitur auswendig. „Später wird der Autodidakt zu seinen Schülern sagen: ,Es ist sinnlos, dirigieren zu lernen. Begnüge dich damit, die Partituren gründlich zu studieren. Du wirst nie eine falsche Geste machen, wenn du das Stück richtig im Kopf hast‘“ (Klüppelholz).
Mit „Pelleas und Melisande“, das er 1910 als Bratscher aufführt, beginnt Scherchens Schönberg-Begeisterung. Als er einmal bei den Proben zur Uraufführung von Schönbergs „Pierrot Lunaire“ den Komponisten vertritt, führt das dazu, dass er das Werk bei der nach der Premiere stattfindenden Tournee dirigiert. Als nächstes folgt Schönbergs Kammersinfonie op. 9, die nach einer Berliner Aufführung unter Scherchens Leitung einen Aufruhr im Publikum verursacht. 
Weil er zu Beginn des Ersten Weltkriegs Kapellmeister in einem Ostseebad bei Riga ist, gerät er als Zivilgefangener nach Sibirien. Die folgenden vier Jahre in Russland, über die er einen Bericht schreiben wird, werden für Scherchen zum prägenden Erlebnis. Unter anderem lernt er Russisch, gründet ein Streichquartett, beginnt zu komponieren, wird Lehrer für Deutsch, Religion und Musik, lernt aber auch das Elend der Landbevölkerung kennen. Er erlebt die Revolution und wird Verehrer Lenins bzw. Anhänger des Kommunismus.

Nach dem Ersten Weltkrieg

Zurück aus russischer Gefangenschaft stürzt sich Scherchen in Arbeit, gründet ein nach ihm benanntes Streichquartett, außerdem die „Neue Musikgesellschaft“, die sich dem Zeitgenössischen verschreibt, und auch die Zeitschrift „Melos“, die mit Unterbrechungen bis 1988 existiert. Sein Ruf als Uraufführungsdirigent geht auf jene Jahre zurück, zu den von ihm aus der Taufe gehobenen Werken zählt die erste Sinfonie Ernst Kreneks.
Als Kommunist engagiert sich Scherchen auch für die Arbeiter-Musikbewegung, gründet und leitet Chöre. Das von ihm übersetzte Lied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ hatte er aus Russland mitgebracht.
Eben noch durch eine Ehescheidung finanziell ruiniert, nimmt seine Dirigentenkarriere Fahrt auf, als Scherchen Paul Hindemith begegnet. Von dem „aufstrebenden Jung-Star“ (Klüppelholz) bringt er 1922 beim als „Donaueschinger Kammermusikaufführungen“ gegründeten Festival die Kammermusik Nr. 1 zur Uraufführung.
Hermann Scherchen wird im selben Jahr in Frankfurt am Main Nachfolger Wilhelm Furtwänglers als Leiter der Sinfoniekonzerte der Museums-Gesellschaft. Er bringt neben den Klassikern auch Mahler und Schönberg auf den Spielplan. In Frankfurt initiiert Scherchen unter anderem ein Strawinsky-Fest und ist beim dortigen Sender der erste Dirigent eines Rundfunkkonzerts, Anlass ist der 50. Geburtstag Arnold Schönbergs. Von Werner Reinhart, der einer reichen Schweizer Familie entstammt, wird Scherchen nach Winterthur eingeladen, das dortige Musikkollegium zu dirigieren: Der Beginn einer Zusammenarbeit, die länger als ein Vierteljahrhundert umfassen wird. In Winterthur engagiert sich Scherchen für unbekannte Schweizer Komponisten wie den im 18. Jahrhundert wirkenden Gaspard Fritz.
Sein nächstes festes Engagement führt ihn 1928 nach Königsberg, er wird Leiter der Sinfoniekonzerte und Musikchef der Ostdeutschen Rundfunk AG (ORAG). In Ostpreußen gibt er erstmals einen Dirigierkurs – zu seinen Schülern zählen Jascha Horenstein, Ernest Bour und Bruno Maderna. Nicht unbedingt vereinbar mit seiner Überzeugung, das Dirigieren sei nicht zu erlernen, verfasst Scherchen ein „Lehrbuch des Dirigierens“, das aus „handfesten Praxisanweisungen besteht“.

Der Exilant

Verständlich bei seiner politischen Haltung und seinem Engagement für neue Musik verlässt Hermann Scherchen 1933 Deutschland. Zunächst ohne festen Wohnsitz, verweilt er schließlich für längere Zeit in der Schweiz, wo er ja auch seine regelmäßigen Dirigierverpflichtungen in Winterthur hat. Im Musikkollegium, das damals schon auf eine dreihundertjährige Geschichte zurückblickt, sitzen auch Amateure, Mäzen Werner Reinhart spielt Klarinette. Dem kleinen Orchester wird Scherchen ein unnachgiebiger Erzieher, es entwickelt sich unter der Autorität des deutschen Emigranten qualitativ entscheidend weiter. 
Sein Einsatz für die neue Musik führt ihn in Brüssel zur Gründung eines Musikverlags namens „Ars viva“, die dabei mitgegründete Zeitschrift „Musica Viva“ bringt es aber nur auf drei Hefte. Und doch sind ihm auch die großen Komponisten vergangener Jahrhunderte wichtig, die er zum Teil bearbeitet. In Winterthur spielt er „alles zwischen Monteverdi und Tschaikowsky“, die heute klassische Moderne, Uraufführungen von Schweizer Komponisten und besonders gern Arthur Honegger.
Einer von Scherchens Dirigierschülern in Budapest ist 1936 der Schweizer Rolf Liebermann, der seinen Lehrer den „größten Musiker des 20. Jahrhunderts“ nennen wird. Mangels Orchester wird die Musik im Dirigierkurs von Scherchen gepfiffen, es wird gesungen oder Rhythmen werden geklopft. Aus Zürich kommt Liebermann mit so viel Geld zurück, dass Scherchen in Wien das Orchester „Musica Viva“ gründen kann, überwiegend aus jüdischen Musikern, die aus anderen Klangkörpern bereits entlassen waren. Mit ihnen führt er Mahlers Neunte auf, anwesend ist deren Uraufführungsdirigent Bruno Walter, der seinen Ohren kaum trauen mag, wie fabelhaft die Musiker spielen. Für Begeisterung sorgt Scherchen auch bei einer Reise nach Tel Aviv zum Palestine-Orchestra, das der Geiger Bronislaw Huberman aus jüdischen Emigranten zusammengestellt hatte.
Zurück in der Schweiz leitet Scherchen in Bern eine weitere Dirigentenklasse, hält Kurse über „Vier Jahrhunderte orchestraler Musik“ und wird erneut für den Rundfunk verpflichtet: In Zürich wird er Musikchef und Orchesterleiter bei Radio Beromünster, dem deutschsprachigen Sender der Schweiz. Mit seinem Assistenten Rolf Liebermann arbeitet er akribisch an der Verbesserung des Klangeindrucks. „Um diese Zeit notiert Scherchen ein ,Bekenntnis zum Radio‘, das für ihn in seiner weltumspannenden Menschheitsverbindung dem Buchdruck vergleichbar ist.“ Er schreibt eine Allgemeine Musiklehre, betitelt „Musik für Jedermann“ und gewidmet „dem unbekannten Radiohörer“. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Zweiten Weltkrieg bleibt Scherchen ein Anwalt für neue Kompositionen und deren Schöpfer, so auch bei den 1946 gegründeten Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik. Hier aber trifft er auf eine junge Generation, die er nicht mehr versteht und mit der er in Konflikt gerät. Kein Wunder, befinden sich doch unter ihnen Persönlichkeiten wie Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen, die nicht bereit sind, nach den Empfehlungen des sich väterlich gebenden Scherchen Kompromisse einzugehen. So kommt es dazu, dass der Senior die Leitung von Boulez’ „Le Visage nuptial“ dem Komponisten selbst überlässt – Werner Klüppelholz versteht dies als Symbol für die Weitergabe der Führungsposition in der musikalischen Avantgarde.
Inzwischen hat der Emigrant Arnold Schönberg, längst US-amerikanischer Staatsbürger, heftige Bauchschmerzen aufgrund von „Gerüchten“, nach denen Hermann Scherchen, für dessen Entwicklung der Zwölftöner so bedeutend war, Kommunist sei. Er befürchtet, „den Kontakt zu ihm abbrechen“ (Schönberg) zu müssen. Obwohl Scherchen die Befürchtung seines Leitsterns bestätigen muss – Schönbergs politische Haltung war wohl antikommunistisch –, ist er ungebrochen gewillt, dessen Musik aufzuführen – wie „Ein Überlebender aus Warschau“ als europäische Erstaufführung und „Der Tanz um das Goldene Kalb“ aus der unvollendeten Oper „Moses und Aron“, beide in Darmstadt.
Scherchens konsequente politische Haltung hat im Jahr 1950 zur Folge, dass sich das Schweizer Radio und das Musikkollegium Winterthur von ihm trennen. Schicksalsschläge in seinem Privatleben – der Tod der Mutter und die von seiner vierten Ehefrau, der Chinesin Xiao Shuxian, betriebene Trennung – lassen ihn eine Krise durchleben. Dass er darüber hinaus als Künstler und politischer Mensch zwischen alle Stühle gerät, zeigt die Tatsache, dass er als möglicher neuer Chefdirigent des Gewandhausorchesters Leipzig nicht in Frage kommt: In der jungen DDR ist Scherchens Einsatz für die neue Musik suspekt. An der (Ost-) Berliner Staatsoper wirkt er dennoch, er führt Brecht/Dessaus „Die Verurteilung des Lukullus“ auf.
Hermann Scherchen heiratet noch ein weiteres Mal, und er lässt sich in einem Bauernhaus in Gravesano im schweizerischen Tessin nieder. Dort richtet er ein Studio nach seinen Vorstellungen ein, um Klangforschung zu betreiben – unterstützt von Wissenschaftlern, Technikern und Musikern, mit denen er Aufnahmen macht. Mit den „Gravesaner Blättern“, einer „Zeitschrift für elektroakustische und schallwissenschaftliche Grenzprobleme“, entsteht ein neues Fachorgan.

Die späten Jahre

Der ältere Scherchen wird launisch und unzuverlässig: Nur drei Tage vor der Uraufführung von René Leibowitz’ Klavierkonzert 1957 kennt er das Werk nicht, erst am Morgen der Premiere sehen die Musiker ihn wieder, dann ist er aber perfekt vorbereitet, wie die Pianistin Else Stock-Hug in der Sendung zitiert wird. In Mailand lässt er schon mal eine Aufführung von Mahlers Dritter platzen. 
Zu den von Scherchen realisierten bedeutenden Uraufführungen jener Jahre zählt auch 1956 in Köln „Il canto sospeso“, eine Kantate seines italienischen Schülers Luigi Nono, die Briefe junger antifaschistischer Widerstandskämpfer zitiert.
Typisch für Scherchen sind auch seine Streichungen und Kürzungen, vor denen weder die Klassiker noch seine eigenen Zeitgenossen sicher sind: Hans Werner Henze musste zur Uraufführung seiner Oper „König Hirsch“ 1956 in Berlin erhebliche Eingriffe des Dirigenten Scherchen hinnehmen. 
Trotz allem hier angedeuteten Chaos, wenn Scherchen an seine Frau Pia schreibt: „Mir gelingt die Musik wie nie zuvor“, so bescheinigt Sendungs-Autor Werner Klüppelholz: „Tatsächlich entstehen in den letzten zehn Jahren nahezu ausnahmslos Meisterwerke der Interpretation.“ Als Beispiel bringt die Sendung einen Ausschnitt aus Mozarts Requiem.

Hermann Scherchen ist vermutlich der Dirigent mit dem größten Repertoire, der Musik aus allen Jahrhunderten seit Monteverdi bis hin zu seinen eigenen Zeitgenossen aufgeführt und aus der Taufe gehoben hat. „Zeitgenössische Musik“, so der Maestro, „das ist wir selbst, das uns eigene Tempo, unsere vorübergehenden Leiden, unsere flüchtigen Hoffnungen und Sehnsüchte. Sie wendet sich ausschließlich an uns, selbst wenn sie uns zu schockieren und zu verwirren scheint.“
Hermann Scherchen starb vor 50 Jahren, am 12. Juni 1966 in Florenz, an einem Herzinfarkt, wenige Tage nach der Uraufführung von Gian Francesco Malipieros Oper „Orfeide“. Zum Abschluss dieser Musikstunden-Folgen ist ein Werk zu hören, mit dem sich Scherchen ein Leben lang befasste und mit dem für ihn „die wahre Existenz der Musik erst beginnt“: Bachs „Kunst der Fuge“, von der der Dirigent eine eigene Bearbeitung für Orchester angefertigt hat, die er sein „opus summum“ nennt.

„Die sieben Leben des Hermann Scherchen“ heißt diese Musikstunden-Reihe. Nur – welche sieben Leben sind denn eigentlich gemeint? Chronologisch steckt der Autor – ich folge den Manuskripten – sie nicht ab. So scheint es mir am plausibelsten, dass Werner Klüppelholz die sieben von ihm zu Beginn genannten Funktionen meint, die Scherchen ausgeübt hat: Geiger, Dirigent, Orchestergründer, Klangforscher, Lehrer, Verleger und Komponist.
Wirklich Genaues über Scherchen zu finden, erweist sich übrigens als gar nicht so leicht: Mit Namen und Zahl seiner Ehefrauen sowie seiner Kinder etwa scheint die Neue Deutsche Biographie am genauesten zu sein. 
Wohl keine Darstellung über Hermann Scherchen kommt ohne die Betrachtung des Dirigenten durch den Schriftsteller Elias Canetti aus – auch Werner Klüppelholz bezieht Canetti ein. Der spätere Literaturnobelpreisträger kannte Scherchen über einen längeren Zeitraum während seiner Wiener Jahre, von denen er in seinem Erinnerungsband „Das Augenspiel“, der „Lebensgeschichte 1931-1937“ erzählt, auf den sich die Betrachter meist beziehen. Scherchen kommt dabei außerordentlich schlecht weg. Canetti und Scherchen – das ist allerdings ein Kapitel für sich. Zu bedenken ist dabei mindestens, dass beide – 1933 – um die gleiche Frau warben – um Anna, die Tochter von Gustav und Alma Mahler. Beide ohne, der 14 Jahre jüngere Schriftsteller zumindest mit kurzzeitigem Erfolg.
Eine Einschätzung wie die – von Werner Klüppelholz zitierte – des Komponisten und Klangkünstlers Luc Ferrari, der Hermann Scherchen als junger Mann im Studio in Gravesano kennenlernte, scheint diesem weitaus eher gerecht zu werden und soll deshalb hier übernommen sein: „Merkwürdig an Scherchen war dieser Widerspruch zwischen scheinbarer Kälte und ganz starken Emotionen den Dingen gegenüber, die ihn berührten“. Ferrari bescheinigt Scherchen „sehr tiefe und intensive“ Gefühle.

Eine lehrreiche Sendereihe über ein reiches Leben. Manche Jahreszahl zusätzlich hätte der Autor nennen können. Ich habe mir erlaubt, die eine oder andere nachzutragen.

Zur Übersicht der Sendungen mit den Manuskripten, denen die Zitate in diesem Text entnommen sind.

Die sieben Leben des Hermann Scherchen

Zum 50. Todestag des Musikuniversalisten

Fünfteilige Reihe von und mit Werner Klüppelholz
Weitere Folgen 14.-17.6.

SWR2, Reihe: Musikstunde
13. Juni 2016, 9.05 Uhr, 55 min.