Der Texaner Michael Morton wurde als junger Mann 1987 für den nicht von ihm verübten Mord an seiner Ehefrau unschuldig zu lebenslanger Haft verurteilt. Dank einiger glücklicher Fügungen gelang es nach fast 25 Jahren, seine Unschuld zu beweisen, und Morton kam wieder in Freiheit – was vielen unschuldig Inhaftierten in den USA verwehrt bleibt.
Das Feature aus der SRF 2-Reihe „Passage“, das diesen Fall aufgreift, verwendet neben einem Interview der Autorin mit Michael Morton Auszüge aus dem 2013 erschienenen Dokumentarfilm „An Unreal Dream: The Michael Morton Story“ von Al Reinert sowie aus Mortons im Jahr darauf erschienenen Buch „Getting Life. An Innocent Man’s 25-Year Journey from Prison to Peace“.
„Meine Frau und ich waren der Inbegriff des demographischen Durchschnitts“, ist Michael Morton zu Beginn der Sendung zu hören: Sie gehörten zur Mittelklasse, wohnten im Vorort im eigenen Haus, waren beide berufstätig und dachten über ein zweites Kind nach. 1986 aber wurden Mortons Familie, seine Zukunft und beinahe auch er selbst zerstört. „Das geltende System ist so marode, dass es letztlich jeden und jede treffen kann“, so Rita Schwarzer, die Autorin dieses Features.
Dass das Schicksal so zuschlagen konnte, hängt damit zusammen, dass die Familie aus dem liberalen Zentrum von Austin, Texas, wegzog, nur eine Meile entfernt in einen Vorort, wo das Ehepaar sein eigenes Haus baute. Das neue Heim gehörte rechtlich zum ländlichen Williamson County, das beherrscht war vom Büro des Staatsanwalts – „ein Tyrann vom Typ großer Fisch im kleinen Teich“, wie es Michael Morton ausdrückt – und einem langjährigen Sheriff mit „biblischer Autorität“. Ein Staatsanwalt, der, wie Michael Morton erleben musste, bereit war, für einen Schuldspruch das Gesetz zu brechen.
Schicksalsschlag mitten in Familienidylle
Am 12.8.1986 wird Michael Morton 32 Jahre alt. Nach der Heimkehr der kleinen Familie von der Geburtstagsfeier im Restaurant – die Eltern hatten ihren dreijährigen Sohn Eric mitgenommen – schläft Michaels Frau Christine sofort ein. Der Ehemann ist enttäuscht, weil er mit ihr intim sein wollte, wie eine von ihm im Bad hinterlassene Notiz zeigt, die noch von Bedeutung sein wird. Früh am Morgen verlässt Michael, der einen Supermarkt leitet, das Haus.
Der Mord an seiner Frau landet im Fernsehen, die Polizei ist schon seit Stunden am Tatort, bevor Michael etwas merkt: Sein Sohn wurde nicht in die Tagesstätte gebracht. Als er zu Hause anruft, meldet sich Sheriff Jim Boutwell, der ihm noch nicht sagt, was passiert ist. Die Polizei ist zahlreich im Haus der Familie zugange, eine Gruppe Schaulustiger aus der Nachbarschaft hat sich gebildet. Michael Morton muss vom Sheriff erfahren, dass Christine tot ist. Er bricht innerlich zusammen. Ihre Leiche, die bei seinem Eintreffen noch am Ort des Verbrechens ist, darf er nicht mehr sehen. Michael und sein Sohn bleiben im Haus („es war ja unser Zuhause“), Angehörige kommen zum Trost und Beistand.
Verhaftung und Prozess
In den nächsten Tagen und Wochen muss Michael immer wieder aufs Polizeirevier zum Verhör. Und wird mit spitzfindigen Fragen konfrontiert. „Für die Polizei war klar, dass ich der Täter war – von Anfang an.“ Noch vor jedem Gespräch mit ihm selbst, so sagten ihm die Nachbarn, die ein „Oh das ist einfach, der Ehemann war’s“ von der Polizei zu hören bekamen. Sechs Wochen nach dem Mord steht Sheriff Boutwell vor der Tür, um Michael festzunehmen. „Ich bekam zum ersten Mal ein ganz konkretes Gefühl für die Macht des Staates“, die er heute mit anderen Augen sehe. Er kommt ins Bezirksgefängnis. Chefermittler Don Woods sagt gegenüber der Presse, gründliche Ermittlung gebe den Behörden ein gutes Gefühl.
Ein halbes Jahr nach dem Mord beginnt der Prozess. Der Richter ist fast 70 und beinahe taub. Immer wieder muss er bitten, dass Ausführungen und Zeugenaussagen wiederholt werden. Ankläger ist der Staatsanwalt Ken Anderson. Er behauptet, Michael Morton wollte an seinem Geburtstag Sex mit seiner Frau, Christine habe sich geweigert, darauf habe er sie zu Tode geprügelt. Anderson beeindruckt die Jury mit einem theatralischen Plädoyer, in dem er weint, schreit und unappetitliche Details nennt – die auf purer Spekulation beruhen. Der Staatsanwalt sei so vorgegangen, weil er keine harten Beweise hatte, weder Zeugen noch Waffe oder Motiv, so sieht es Michael. Die Jury spricht ihn nach sieben Verhandlungstagen schuldig, er wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Vergeblich beteuert Michael seine Unschuld.
In Haft
Michael Morton kommt ins Gefängnis Ramsey Unit südlich von Houston, wo die Zeit stehengeblieben zu sein scheint und zum Beispiel schwere Feldarbeit zu leisten ist. Er begreift schnell, wie gefährlich dieser Ort ist. Zu hören sind schreiende und weinende Männer – und auch, wie Männer vergewaltigt werden. Es ist eine fremde, feindliche Welt mit eigenen Sitten und Regeln.
Ein Sozialarbeiter rät Michael, die Zeit hinter Gittern durch Weiterbildung zu nutzen. Der unschuldig Inhaftierte liest viel – Mark Twain und John Steinbeck nennt er unter seinen Lieblingsautoren – und holt das Psychologiestudium nach, das er einst abgebrochen hatte. Dazu kommt ein Master in englischer Literatur.
Nur noch die engsten Verwandten, seine Eltern und Geschwister, halten den Kontakt zu Michael. Und er verliert sogar seinen Sohn: Als Teenager will Eric seinen Vater nicht mehr sehen. Mit 18 ändert er seinen Namen und wird von Michaels Schwägerin adoptiert. Michael verzweifelt, doch ein Gotteserlebnis verändert ihn, wie er erzählt. „Ich fühlte mich neu.“ Die Mordlust gegen diejenigen, die ihn in den Knast gebracht hatten, fällt von ihm ab.
Auftritt Innocence Project
Angeregt von einem von Michaels ursprünglichen Verteidigern tritt 2002 das Innocence Project auf den Plan. Es ist spezialisiert auf DNA-Analyse, um die Unschuld von Inhaftierten zu beweisen. John Raley, einer der sich einschaltenden Anwälte der Organisation aus New York City, ist nach einem Gespräch mit Michael von dessen Unschuld überzeugt. Michaels Verteidiger hatten von Anfang an vermutet, dass die Ermittler Beweise, die auf Unschuld ihres Mandanten hinweisen, unterschlagen hatten: Zu dünn war, gemessen an der Dauer der Ermittlungen, der nur sechsseitige Ermittlungsbericht. Anfangs sträubt sich der jetzt amtierende Staatsanwalt John Bradley gegen die DNA-Analyse eines mit Blut befleckten Halstuchs, das nach Christines Ermordung in 90 Meter Entfernung vom Haus der Mortons gefunden wurde.
Freilassung nach DNA-Analyse
Erst nach über fünf Jahren ist es soweit und – Volltreffer: Auf dem Halstuch werden DNA-Spuren von Christine Morton und eines Unbekannten gefunden, der nach Abgleich mit einer DNA-Datenbank identifiziert werden kann: ein Vorbestrafter namens Mark Alan Norwood. Das Innocence Project verlangt unverzüglich Michaels Freilassung. Außerdem geraten seine Verteidiger an Beweismaterial, das damals unterschlagen wurde: am gewichtigsten die sogenannten „Monster-Protokolle“, die Abschrift eines Telefongesprächs zwischen Michaels Schwiegermutter und seinem Sohn: Eric war im Haus, als der Mord geschah, er hat den Täter, den er ein Monster nannte, gesehen und seiner Großmutter davon am Telefon erzählt. Dabei sagte er auch, dass sein Daddy zur Zeit des Verbrechens nicht im Haus war. Michaels Schwiegermutter fertigte aus dem Gespräch ein Protokoll und übergab es Chefermittler Don Woods. Später knickte sie ein und glaubte doch an die Schuld ihres Schwiegersohns. Ken Anderson hatte geleugnet, über weiteres Beweismaterial zu verfügen und damit gelogen – auch gegenüber dem Richter, nicht nur gegenüber der Verteidigung. 2011 wird Michael Morton freigelassen.
Ermittlungen gegen Staatsanwalt
Das Innocence Project hakt nach. Und ermittelt: Damals wollte der Staatsanwalt Chefermittler Woods nicht vor Gericht aussagen lassen. Hatte Ken Anderson somit durch das Zurückhalten von Beweismitteln texanisches Gesetz und ethische Grundsätze verletzt? Anderson entschuldigt sich bei Michael Morton, will sich aber keines Fehlverhaltens („misconduct“) bewusst sein. Als er sich schließlich selber wegen „misconduct“ vor Gericht verantworten muss, will er sich an nichts erinnern können. Anderson wird zu sage und schreibe zehn Tagen Gefängnis verurteilt, aber schon nach fünf Tagen wegen guter Führung entlassen. Allerdings verliert er sein Anwaltspatent.
Michael Morton in Freiheit
Michael Morton schafft den Übergang vom Gefängnis in die Freiheit problemlos, auch seelisch („no flashbacks“), wie er erzählt. Er wird mit zwei Millionen Dollar vom Staat Texas entschädigt, betont aber, dass das erlittene Leid nicht wiedergutzumachen ist. Heute ist er „Teilzeitrentner“, schreibt und hält Vorträge. Michael Morton ist zum Gesicht aller unschuldig Verurteilten in den USA geworden. Er ruft zur Unterstützung des Innocence Project auf, deren Akteure er nach seiner Freilassung als „Heilige“ bezeichnet hatte. Er ist wieder verheiratet und hat sich auch mit Eric versöhnt. Die Beziehung zu seinem Sohn bezeichnet Michael heute als „großartig“.
Jahre nach seiner Freilassung lebt Michael Morton ohne Bitterkeit. Für ihn, dem so übel mitgespielt wurde, haben sich die Dinge schließlich optimal zum Guten gewendet. „Es hat einfach alles gepasst.“ Aber das erkenne er erst jetzt im Rückblick.
Mehr lesen: Michael Mortons Fall in der Darstellung des Innocence Project (englisch).