Dass der berühmte schwedische Autorenfilmer Ingmar Bergman auch für den Hörfunk arbeitete, ist wenig bekannt. 1951 sendete der schwedische Rundfunk das Hörspiel „Staden“, das knapp anderthalb Jahrzehnte später auf deutsch in einer Inszenierung von Heinz von Cramer produziert und nun für eine Wiederholung dem Archiv entrissen wurde.
Im Mittelpunkt des Hörspiels, einer bedeutungsschwangeren apokalyptischen Phantasie, steht der 30-jährige Joachim, ein Alter Ego Bergmans, der nach einjähriger Abwesenheit in seine Heimatstadt zurückkehrt.
Es ist eine Stadt, gegen die Joachim – in einem inneren Monolog zu Beginn – seine Abneigung ausdrückt, und die er hässlich findet. Gleichzeitig belastet ihn etwas aus der Vergangenheit, und er gesteht, Schuld zu haben, die ihn am Vergessen hindere.
In einem Lokal erfährt Joachim vom Kellner, dass der Oberste Gerichtshof Anne Schalter schuldig gesprochen habe – ein Fall, der in der Stadt offenbar Aufsehen erregt und nicht weiter erläutert werden muss. „Und das Urteil?“ „Tod durch den Strang.“ Die Verurteilte ist Joachim, wie sich erweisen wird, wohlbekannt.
Ein Pastor setzt sich zu ihm, der beklagt, dass die Menschen in dieser Stadt nicht mehr an Gott glaubten. Joachim begründet, dies sei des Pastors Schuld, „die religiöse Erneuerung ist hoffnungslos gescheitert in dieser Stadt.“ Er erinnert an die merkwürdigen, wundersamen Katastrophen, die sich drei Jahre zuvor ereignet hätten: Überschwemmungen, die sprechende Fische an Land spülten, riesige Bäume, die aus den Straßen hervorbrachen und die Häuser zerstörten… 18 Tage und Nächte andauernde Zeichen und Wunder. „Dann begann die Erneuerung des Glaubens. Sie traten Ihr Amt an.“ Der Kirchgang florierte, es ereigneten sich Wunder anderer Art: blühende Felderlandschaften, die Welt wurde in ein Paradies verwandelt. Joachim bejaht, dass er zu den Gläubigen gehöre, beim Beten aber nicht so konsequent sei. „Ich wünschte, Sie, ich und die ganze Stadt gingen zum Teufel“, entgegnet der Pastor erbost.
Nach dem Verlassen des Lokals bemerkt Joachim erneut die permanent, Tag und Nacht stattfindenden Straßenarbeiten, die er nur schwer ertragen kann. Von einem Arbeiter erfährt er, dass diese unerlässlich seien, da die Erde auseinanderberste.
Er trifft Marie, eine Schauspielerin, mit der er einmal ein Verhältnis hatte. Sie ist inzwischen geschieden. Ihre Tochter, die sie nach ihrem Eingeständnis nicht gut behandelt hat, sei gestorben. Marie fragt Joachim, ob er sie heute Abend nach der Vorstellung abholen werde.
Ein Mann bittet Joachim um Feuer, ein seltsam blasser Mann mit dunklen Rändern unter den Augen. Er stellt sich als Oliver Mortis vor, ein Name, über den Joachim sich wundert. Oliver Mortis gesteht, dass er – mors, mortis – der Tod sei – und er wisse auch, auf Nachfrage seines Gesprächspartners, wann dessen Stunde schlage. Es werde Selbstmord sein, eine Nachricht, die Joachim erschreckt. Oliver Mortis lenkt das Gespräch auf die zum Tode verurteilte Anne Schalter – er sei außerdem ihr Henker. Erst jetzt erfährt Joachim, dass sie drei von ihren vier Kindern getötet hat. Schließlich erreichen die beiden Männer das Gefängnis. Joachim, der zunächst geäußert hatte, Anne nicht sehen zu wollen, ja, mit ihr gar nichts zu tun zu haben, wird zu einem Besuch eingelassen. Natürlich ist er niemand anderes als Anne Schalters Ehemann, der seine Frau vor einem Jahr verlassen hat.
Der nun folgende Dialog veranschaulicht das zwischen Liebe, Leidenschaft, Untreue, Eifersucht und Abneigung – bis hin zu seelischen Quälereien –, zwischen persönlichen Attacken und Versöhnung lavierende Verhältnis zwischen Joachim und Anne. Er ist nicht bereit, Schuld einzugestehen und beharrt auch darauf, keine Schuld zu haben, als Anne beteuert, sie habe ihre Kinder aus enttäuschter Liebe getötet. Die Vorwürfe zwischen beiden gehen hin und her. „Wir hatten unsere Chance vertan“, bilanziert Joachim. – Was können wir denn tun, fragt Anne. „Wir könnten einander verzeihen“, lautet die Antwort. Anne reagiert darauf mit Spott, Joachim seinerseits mit einem Hassausbruch. Beide scheiden voneinander in Unfrieden.
„Ich muss verrückt gewesen sein, zurückzukehren in diese Stadt.“ In Reflexionen versunken gerät Joachim in die Nähe der Gruben, wo die vielen, hunderte Meter tiefen Löcher einen unheimlichen Eindruck machen. Er denkt an einen alten Mann, der schon die Pumpen versorgte, als Joachim noch klein war und den er nun wiedersieht: Joachim wird angesprochen, er solle sich vorsehen, denn „in den letzten Tagen hat’s da unten ganz schön rumort.“ Der Mann erzählt, die Stadt, die einst an der Ausweitung der Gruben und dem Buddeln von Löchern reich wurde, war ruiniert, nachdem eines Tages Wasser in den Gruben stand. Als dann die Katastrophe hereinbrach, will er übernatürliche Dinge gesehen haben, die Anderen verborgen blieben: eine alte Hexe, dann am nächsten Tag „hunderte von abgehackten Händen“, die auf dem Wasser der Grube schwammen. Was jetzt passieren wird, will er aber nicht prophezeien. Die Begegnung mit „Pumpe“ hält Joachim davon ab, Marie am Theater abzuholen.
Der Rückkehrer will nunmehr seine Großmutter besuchen, befindet sich in ihrer Straße aber auf einmal in der falschen Jahreszeit, es ist Winter. Und statt der eben noch eingebrochenen Nacht ist es zwei Uhr Nachmittags. Im Haus der Großmutter ist alles noch genau wie früher. Joachim erblickt das Kinderzimmer, er sehnt sich nach einer vergangenen Welt. Im Gespräch mit der Großmutter zieht er eine Art Lebensbilanz: „Ich hab mich in Frauen vergraben, in religiöse Extase und in meinen Glauben an das, was man schöpferische Tätigkeit nennt. Aber es war alles vergebens. […] Und jetzt gebe ich mich geschlagen – und warte auf mein Urteil. Du siehst, ich habe meine eigene Bankrotterklärung schon unterzeichnet.“ Die Großmutter nennt ihn hochmütig, er liebe seine Schuldgefühle.
Nun „erscheinen“ Joachims Weggenossen vom selben Tag, sie gleichen den Figuren aus seinem Puppentheater: Anne, Marie und auch Oliver Mortis. Das Sprengen der Stadt ist zu hören. Es stünde doch in der Zeitung, belehrt ihn Oliver Mortis: „Die Stadt der Vergangenheit soll zu Staub zermahlen werden.“ Ein „Leichenzug“ mit Orchester zieht vorbei. Joachim verflucht die Stadt. Er geht zum Fluss. „Die Stadt der Vergangenheit ist fast ausgelöscht. […] Hier stehe ich auf meiner kleinen Insel inmitten des schwarzen tiefen Wassers. […] Ich wende mein Gesicht der Dämmerung zu. Das Ufer ist verschwunden. Ich spüre, dass ich warte. Ich warte.“
Wie das zu Ende gegangene Geschehen nun zu deuten ist, darüber mögen Bergman-Spezialisten zuverlässiger Auskunft geben. Tritt nach dem Ende der erzählten Handlung Oliver Mortis’ Prophezeiung von Joachims Ende ein? Sind die Katastrophe, von der Pumpe erzählt, und das Ende der Stadt ein (göttliches) Strafgericht? Die religiösen Bezüge in diesem Bergman-Hörspiel sind unübersehbar, Phantasie und realistische Erzählung kaum auseinanderzuhalten. Der HörDat-Eintrag zur „Stadt“ enthält ein Bergman-Zitat, nach dem der Regisseur im Traum „dreimal versucht [habe], die Stadt zu gestalten.“ Der erste Versuch war dieses Hörspiel, die beiden folgenden die Filme „Das Schweigen“ und „Das Schlangenei“.
„Die Stadt“ fügt sich durchaus in Bergmans filmisches Frühwerk ein, Thematiken wie die Auseinandersetzung mit Gott und der Religion oder zwischenmenschliche Beziehungen prägen aber auch sein gesamtes Werk. Auffällig in diesem Hörspiel ist die Desillusionierung über die Liebe: Sie sei „ein merkwürdiges Wort“, so Marie, oder überhaupt „nur ein Wort“, meint Anne, die findet, dass Verzeihung „eine lächerliche Geste“ sei. Durchgängig zu hören ist auch von Joachims Haltung zur Schuld, die sich als widersprüchlich erweist: „Ich habe Schuld“, heißt es zu Beginn, dann aber auch „keine Schuld“ – zu Anne im Gefängnis. Und laut der Großmutter liebt Joachim seine Schuldgefühle.
Eine Betrachtung zu diesem Hörspiel darf die Klanggestaltung nicht unterschlagen, für die, da andere Angaben nicht gemacht werden, wohl der Regisseur Heinz von Cramer selbst verantwortlich zeichnet. Sie ist so suggestiv, dass sie eine eigene Abhandlung verdienen würde. Streckenweise kann von einer Noise-Komposition gesprochen werden.
So etwa, wenn Joachim sich zu Beginn (die Szene mit dem Arbeiter) mitten in den Straßenarbeiten befindet. Klanglich beeindruckt auch die Sequenz Joachims mit „Pumpe“ – ein dunkel dräuendes Bohren, dazu Tropfgeräusche, wohl durch Perkussion und Hall erzeugt. Musikalisch wirkt etwa auch Pumpes rhythmisches, sich wiederholendes Sprechen („Löcher … Risse … und Löcher … Risse …“), ein Element in der sich zur Polyphonie steigernden Schlussszene. Mit einem über eine Minute langen gespenstischen Sound endet das Hörspiel. Heinz von Cramer, als „Regisseur, der von der Musik her kam“ (DLF), verschafft ihm eine außergewöhnliche klangliche Note.