rbb kulturradio, 3. Januar 2016

Weltberühmt und vergessen

Der sowjetisch-jüdische Schauspieler Solomon Michoels – Feature-Wiederholung
Michoels-Denkmal an seinem Geburtshaus im heutigen Daugavpils, Lettland (Wikim. Comm.)
Michoels-Denkmal an seinem Geburtshaus im heutigen Daugavpils, Lettland (Wikim. Comm.)

Am 1. Januar 1921 eröffnet mit seiner ersten Aufführung das Staatliche Jüdische Theater Moskau, nach seinem russischen Namen abgekürzt GOSET. Es ist das erste jüdische Staatstheater der Welt, ein ehemaliger Bankettsaal mit nur 90 Plätzen. Gespielt werden Einakter nach Scholem Alejchem, Marc Chagall hat Wände, Vorhang und Kostüme gestaltet. Der 30-jährige Schauspieler Solomon Michoels, bisher Jurastudent in Petrograd, zieht die Zuschauer in seinen Bann und wird Star des Ensembles. Gespielt wird ausschließlich auf jiddisch, als Ausdruck neu erwachten Selbstbewusstseins. Die Revolution hatte das Judentum von der Verfolgung und Diskriminierung im Zarenreich befreit. Die gespielten Stücke entsprechen dem postrevolutionären Zeitgeist, mit einfachen Menschen im Mittelpunkt. Die künstlerische Leitung lag bei dem wie Michoels 1890 geborenen Regisseur Alexej Granovski. Die Schauspieler, erläutert Alla Suskin, Tochter des GOSET-Schauspielers Veniamin Suskin, als eine der Zeitzeuginnen dieses Features, kamen größtenteils aus dem Shtetl. Studiert hatte nur Solomon Michoels.

Erster Erfolg

Seinen ersten großen Erfolg feierte das Theater 1923 mit dem Stück „Zweihunderttausend“, wiederum nach Scholem Alejchem: Der arme Schneider Schimele, gespielt von Michoels, gewinnt im Stück in einer Lotterie 200.000 Taler und verliert darüber den Kopf. Eine Paraderolle für Michoels, sagt Alla. Der Schneider wird um seinen Gewinn gebracht, kehrt zu seinem ehrlichen Handwerk zurück, sich erfreuend an dem, was er hat. Das sei jüdischer Optimismus, sagt Nina Michoels, wie ihre ältere Schwester Natalja Tochter von Solomon und wie diese eine weitere Zeitzeugin in diesem Feature. Ebenso wie Alla Suskin leben die Schwestern seit den 1970er Jahren in Tel Aviv. Alle drei inzwischen hochbetagte Gesprächspartnerinnen, halten sie die Erinnerung an das Moskauer Jüdische Staatstheater wach: Natalja etwa hat eine in mehrere Sprachen übersetzte Biographie über ihren Vater geschrieben, aus der in diesem Feature auch zitiert wird. 

Allas Vater Veniamin Suskin kommt zwei Jahre nach Solomon Michoels an das Theater und wird dessen idealer Partner. Michoels war klein und hässlich, aber das machte laut Tochter Natalja seinen Zauber aus, der in einigen erhaltenen Filmaufnahmen zu erleben ist. Die Autorin dieses Features: „In Michoels Spiel verschmilzt expressionistische Theaterkunst mit ostjüdischer Schauspieltradition, die sich im Laufe der Jahrhunderte an jiddischen Wandertheatern geformt hat.“ 

Wachsende Reputation

In den 1920er Jahren wird das Jüdische Staatstheater zu den großen Moskaus gezählt, das auch nichtjüdisches Publikum anlockt. Schon 1924 zieht es in einen größeren Saal um. Im Rahmen einer Europareise im Jahr 1928 besuchen in Berlin unter anderen Stefan Zweig und Lion Feuchtwanger eine Aufführung des GOSET. „Große Kunst“, schreibt Alfred Kerr, der die Schauspieler im Berliner Theater des Westens erlebt, und auch Herbert Ihering, ein anderer bekannter Kritiker, ist begeistert. Mehrfach gibt es Kritik aus der Heimat etwa am Verhalten mancher Schauspieler im kapitalistischen Westen – schließlich sollte das GOSET als Aushängeschild der UdSSR dienen. In Moskau wird bemängelt, das Theater bemühe sich nicht, die Sowjetunion zu repräsentieren. Auftritte in den USA werden daraufhin abgesagt, Alexej Granovski aber bleibt im Westen. In einer Zeit rauheren politischen Klimas mit ersten Massenverhaftungen wird Michoels künstlerischer Leiter.
Der politische Druck nimmt in den 30er Jahren zu. Es sollen Stücke gespielt werden, die die neue Gesellschaft widerspiegeln: mit jüdischen Kommunisten und Kollektivbauern. Solche sowjetischen Stücke auf jiddisch müssen aber erst geschrieben werden – und sind so enttäuschend, dass die Besucherzahlen bei diesen Produktionen zurückgehen. 

Erfolg mit Shakespeare

Der Ausweg ist im Shakespeare-Jahr 1935 eine Inszenierung des „Lear“ auf jiddisch, mit Michoels als Lear und Suskin als Narren. Der „Lear“ wird die berühmteste Inszenierung des GOSET, mit 200 Aufführungen in den folgenden drei Jahren. Sie macht Michoels weltberühmt, und nicht nur die sowjetische Presse jubelt: Gordon Craig, ein englischer Regisseur und Shakespeare-Forscher, sieht 1935 gleich zwei Aufführungen in Moskau. Später schreibt er, England habe keinen vergleichbaren Lear-Darsteller.
1937, im Jahr des Höhepunkts des stalinistischen Terrors, häufen sich Nachrichten von Verhaftungen von Freunden und Bekannten. In Michoels’ Familie herrscht Angst und eine nervöse Spannung. Der Schauspielstar erwartet, selbst abgeholt zu werden, so Natalja und Nina in diesem Feature, aus dem jüdischen Staatstheater wird aber niemand verhaftet.

1938 inszeniert das GOSET Scholem Alejchems „Tewje, der Milchmann“ – in einer Musical-Version wird es in den 1960er Jahren als „Fiddler on the roof“, deutsch „Anatevka“, um die Welt gehen. Michoels spielt die Hauptrolle, und der Erfolg ist so gewaltig, dass jahrelang kaum an Karten zu kommen ist, erzählt GOSET-Schauspielerin Maria Kotljarova, auch sie eine Zeitzeugin in diesem Feature.
1939 wird Michoels „Volkskünstler der UdSSR“ und mit dem Lenin-Orden ausgezeichnet. Er nutzt diese Ehrungen, um sich erfolgreich für bessere Lebensbedingungen für seine Schauspieler, vor allem bessere Wohnungen, einzusetzen. Laut Natalja sah Michoels einen entfesselten Antisemitismus in der UdSSR und die von Deutschland ausgehende Gefahr voraus. 

Im Weltkrieg

Nach dem Überfall der NS-Wehrmacht auf die Sowjetunion richten sowjetische Juden, darunter Michoels, im August 1941 durchs Radio auf jiddisch einen Aufruf an Juden in aller Welt, in dem sie um Unterstützung gegen den faschistischen Aggressor bitten. Auch Stalin, so Feature-Autorin van Kann, schätzte und nutzte die rhetorische Kraft von Michoels. Nachdem dieser vor Soldaten gesprochen hatte, so Maria Kotljarova – das Ensemble spielte auch für Truppeneinheiten –, wären diese am liebsten sofort in den Kampf gezogen. 
1942 wird Michoels Vorsitzender des im Jahr zuvor gebildeten Jüdischen Antifaschistischen Komitees und besucht in dieser Eigenschaft die USA. „Er soll Spenden sammeln und zur Eröffnung einer zweiten Front gegen Hitlerdeutschland aufrufen“ (Brigitte van Kann). Michoels war nicht in der Partei, aber er war ein „echter Antifaschist“ und „ein großer Patriot“ (Kotljarova). Der gefeierte Schauspieler wirbt auf Reisen durch die USA, Kanada, Mexiko und England 46 Millionen Dollar ein. 

Kriegsende, aber keine Befreiung

Kurz nach Kriegsende spielt das GOSET das Musical „Frejlechs“ (Fröhlichkeit) – mit großem Erfolg. „Ein Bühnenstück gab es nicht. Der Text wurde von Probe zu Probe geschrieben und entstand aus der Improvisation heraus“, ein Musical nur aus Volksliedern. Maria Kotljarova: „Angesichts der sechs Millionen Juden, die ermordet worden waren, wollte Michoels mit diesem Stück sagen: Das Volk lebt, man kann es nicht umbringen.“ 1946 – das Ansehen des GOSET und seiner Schauspieler scheint noch ungetrübt – wurde für „Frejlechs“ der Stalinpreis verliehen.
Doch wechselt die Stimmung in der UdSSR gegenüber den Juden schnell. Autorin van Kann: „Nachdem der äußere Feind besiegt ist, braucht Stalin nun einen inneren – und brandmarkt die Juden als ,heimatlose Kosmopoliten‘. Die antisemitische Kampagne richtet sich vor allem gegen die Intellektuellen.“ Selbst in seiner Funktion als Vorsitzender des Jüdischen Antifaschistischen Komitees gelingt es Michoels nicht mehr, Unterstützung für jüdische Holocaust-Überlebende in der Sowjetunion zu bewirken. 

Tod Michoels’ und das Ende des GOSET

Am 13. Januar 1948 erfahren die Familie und das Theater vom Tod Solomon Michoels’. Offiziell sei er bei einem Autounfall ums Leben gekommen, sein Umfeld mochte das nicht glauben. Maria Kotljarova: „Wir wussten nicht, wie man ihn umgebracht hat und haben damals auch noch nicht verstanden, warum. Aber wir wussten sofort: Es war kein Unfall. Wir hatten keine Ahnung, wie wir ohne ihn weiterleben sollten“, „das ganze Leben brach zusammen.“ 
Für den Toten wird ein Staatsbegräbnis festgelegt. Marc Chagall schickt aus New York ein Beileidsschreiben. Nach einigen Tagen Pause wird weitergespielt, überhaupt wird im Theater beschlossen, dass es weitergehen soll. Zum Nachfolger Michoels’ als Theaterleiter wird Veniamin Suskin ernannt, der dazu nervlich kaum in der Lage ist.
Juden werden nun in großer Zahl verhaftet, aus Angst meiden sie das GOSET. Immerhin kaufen sie Abonnements, um das Theater zu unterstützen, bei Aufführungen aber ist der Saal fast leer, erzählt Nina. Suskin, so seine Tochter Alla, kam ins Geheimdienst-Gefängnis. Das Theater, Schauspielschule und Verlag wurden im Dezember 1949 geschlossen. Dies war „faktisch das Ende der jüdischen Kunst in der Sowjetunion“, wie es Natalja Michoels ausdrückt.
1952 werden 13 Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees zum Tode verurteilt und hingerichtet. Brigitte van Kann: „Insgesamt verliert die jüdische Kultur der Sowjetunion bis zum Tode Stalins 450 Schriftsteller, Schauspieler, Musiker, Maler und Bildhauer.“ 
Alla Suskin und ihre Mutter werden in die Verbannung geschickt. Von der Hinrichtung des Vaters erfahren sie erst 1955, ein Jahr nach ihrer Freilassung. Auch der Ehemann von Michoels’ Tochter Natalja, der Komponist Mieczyslaw Weinberg, wird – 1952 – verhaftet, durch Intervention seines Freundes Dmitri Schostakowitsch aber nach Stalins Tod freigelassen. 

Epilog, die Autorin: „1988 ordnet Gorbatschow die Untersuchung des Prozesses gegen das Jüdische Antifaschistische Komitee an. Im Dezember 1989 werden alle Angeklagten posthum rehabilitiert.“ 

Fazit: Gelegentlich kommt es vor, dass Feature-Produktionen auf Tonträger veröffentlicht werden. Diese wäre ein Kandidat dafür (am besten mit ausführlichem dokumentarischem Material). Persönliche Zeugnisse von Seltenheitswert – eine Form der Oral History, wenn man so will –, Originalaufnahmen aus den erwähnten Inszenierungen, auch mit Musik, darin bezaubernde Lieder: Ein atmosphärisches Radiostück mit lehrreichem Inhalt, viel mehr kann ein Feature nicht bieten.

Das Manuskript ist auf der DLF-Archivseite – etwas gekürzt gegenüber der rbb-Version – noch greifbar.

Zwischen Shakespeare und Stalin

Der legendäre Schauspieler Solomon Michoels

Von Brigitte van Kann
Künstlerische Bearbeitung: Gabriela Hermer
Im O-Ton: Natalja und Nina Michoels (Töchter von Solomon Michoels), Alla Suskin (Tochter des GOSET-Schauspielers Veniamin Suskin), Maria Kotljarova (Schauspielerin am GOSET)
Sprecher: Gabriele Heinz, Wera Herzberg, Anne Katrin Bürger, Johanna Schall und Ingo Hülsmann
Originalaufnahmen aus dem GOSET, Violine und Klavier-Perkussion von Dietrich Petzold
Regie: Gerda Zschiedrich
rbb/Deutschlandfunk 2012

rbb kulturradio, Reihe: Feature
3. Januar 2016, 14.04 Uhr, 56 min.