SWR2, 28. September 2015

Der aufkommende Klavierboom

Die SWR2 Musikstunde beleuchtete Virtuosen, Entwicklungen, Szenen um 1800

Die Erfindung der Hammerklavier-Technik im 18. Jahrhundert führt bald zu einem gewaltigen Aufschwung und zur Verbreitung des Instruments. Aus Klavier-Werkstätten werden binnen dreier Generationen industrielle Großbetriebe mit Produktionszahlen von über tausend Stück jährlich. Zum Ende des 18. Jahrhunderts hin bildet sich ein Musikertyp heraus, dem man bis ins 19. Jahrhundert hinein immer wieder begegnen wird. Er vereint mehrere Funktionen in sich, ist Virtuose, Pädagoge, Verfasser von Unterrichtswerken, bisweilen Verleger oder sogar Fabrikant. Diese Gemeinsamkeiten werden bei den in den fünf Folgen der „Musikstunde“ vorgestellten Protagonisten, von denen manche heute nur noch wenig geläufig sind, wiederholt begegnen.

Pianoforte-Pioniere

1782 stirbt Johann Christian Bach, der gemeinsam mit Carl Friedrich Abel in London eine der ersten öffentlichen Konzertreihen gegründet hatte, in der Themsemetropole. Ein Jahr früher ging Wolfgang Amadé Mozart von Salzburg nach Wien, um als freischaffender Musiker sein Glück zu versuchen. Genauso wie der Bach-Sohn und nach dessen Vorbild als Klaviervirtuose und Komponist. Als Kind hatte der kleine Wolfgang auf seinen von Vater Leopold betriebenen Reisen mit der Familie durch Europa Johann Christian in London kennengelernt und sich von dessen galantem Stil beeinflussen lassen. „Die Karriere Mozarts vom musikalischen Wunderkind zum Star-Pianisten des Wiener Musiklebens fällt ziemlich deckungsgleich zusammen mit der Karriere des neuen Hammerklaviers. Dabei war die Vielfalt der verschiedenen Instrumente, die damals in Gebrauch waren, enorm“ (sämtliche Zitate in diesem Text, wenn nicht anders bezeichnet, von Wolfgang Scherer). Mozart spielte am liebsten auf Instrumenten der Regensburger Instrumentenbauer Franz Jakob Späth und Christoph Friedrich Schmahl, sogenannten Tangentenflügeln, die noch nah am Cembaloklang waren. Als er 1777 auf Reisen mit seiner Mutter in Augsburg Station machte, lernte er die Instrumente von Johann Andreas Stein mit verbesserter Hammermechanik kennen – und ist so angetan, dass er nunmehr Steins Instrumente bevorzugt: „…auf die Pianoforte vom Stein unvergleichlich“, schreibt er in einem Brief an den Vater.
Eine Tochter Steins, Nannette, damals Klavierwunderkind, führt nach dem Tod des Vaters die Werkstatt weiter, geht mit ihrer Klavier-Manufaktur nach Wien „und baut ihre Firma zu einem europaweit vernetzten Unternehmen aus. So avanciert sie zur finanziell erfolgreichsten Musik-Unternehmerin ihrer Zeit“, die auch mit Beethoven befreundet war. In Erinnerung bleibt sie als Nannette Streicher (1769-1833), so ihr Name nach der Hochzeit mit dem Musiker Andreas Streicher.

Le Beau Dussek

Der Böhme Jan Ladislaus Dussek, vier Jahre jünger als Mozart, war einer der ersten durch Europa reisenden, gefeierten Klaviervirtuosen. „Le Beau Dussek“, so genannt, weil die bis heute übliche Platzierung des Flügels im Konzert mit Orchester – der Solist präsentiert sein Profil und lässt sich auf die Finger schauen – auf ihn zurückgeht, hatte einen Schlag bei den Damen. Da auch hochgestellte darunter waren – Katharina die Große und Marie Antoinette etwa – führte er als junger Mann ein abenteuerliches Leben.
Als Dussek 1789 nach London kam, damals das wohl bedeutendste Musikzentrum Europas, blieb er für rund ein Jahrzehnt. Er begeisterte mit seinen Konzerten und wurde damit zum Freund des inzwischen in der Themsestadt als Klavier-Unternehmer tätigen Muzio Clementi – eben jener Typ des Musikers, Verlegers und Klavierbauers. Mit einer massiven Sonderanfertigung eines Instruments von John Broadwood erreichte Dussek bis dahin unerreichte klangliche Intensität.
In London lernte Dussek auch Joseph Haydn kennen, konzertierte mit ihm und ermöglichte dem Senior auch das Spiel auf dem Broadwood. Und da es alle großen Namen und solche, die es werden wollten, nach London zog, erwuchs Dussek Konkurrenz: Der elf Jahre jüngere, aus Mannheim stammende Johann Baptist Cramer war Schüler von Clementi und trat auch als Unternehmer in die Fußstapfen des Lehrers: Cramer gründete eine Instrumentenfabrik, einen Musikverlag und verfasste ein vielgerühmtes klavierpädagogisches Werk. Mit ähnlichen Unternehmungen hatte Dussek weniger Glück. Sein mit dem Schwiegervater gegründeter Musikverlag geht Pleite, Dussek lässt Frau und Tochter in London zurück und verlässt das Land.
Eine weitere wegweisende Bekanntschaft wird für ihn in Hamburg Prinz Louis Ferdinand von Preußen, der auch zu Beethoven eine enge Beziehung hatte. Dussek kommt 1804 nach Berlin, um an der Aufführung des Klavierquintetts op. 1 des Prinzen mitzuwirken, und bleibt fortan in dessen Gesellschaft. Was nicht zuletzt gemeinsames exzessives Trinken bedeutete. Dies war für den nun wohl nicht mehr schönen Dussek nichts Neues, und er behielt diese Angewohnheit nach dem Tod des Prinzen in der Schlacht bei Saalfeld 1806 bei. Als Folge seiner Trunksucht verfiel er zusehends. Dussek starb 1812 bei Paris, wo er die letzten Jahre verbrachte.

John Field

„Ein Scheißdreck ist alles gegen Field!“, soll Beethoven, bezogen auf den aus Dublin stammenden Klaviervirtuosen und Komponisten, notiert haben. John Field, 1782 geboren, kam hochtalentiert mit 10 Jahren zu Muzio Clementi nach London, wo kurz zuvor der wenige Jahre ältere Johann Nepomuk Hummel als Virtuose und Improvisator Furore gemacht hatte. Der kleine John wird nicht nur Clementis Schüler, sondern auch Gehilfe in dessen Laden. Mit seinem Talent sorgt er für Aufsehen, sogar Joseph Haydn ist beeindruckt. „Allmählich entdeckt er an den Tasten eine eigene, unverwechselbare Musiksprache“. Field erfindet eine Musik, die er – noch vor Chopin – „Nocturne“ nennen wird, was heute vergessen ist. Und für heute viel bekanntere Kollegen, wie eben Chopin, Liszt oder Beethoven, hat er nicht viel übrig. 
John Field machte seinerseits Karriere. Nach zehn gemeinsamen Jahren mit Clementi trennte er sich von seinem Lehrer während einer Reise nach Russland. Das Zarenreich wird nunmehr seine Heimat, und der Tastenvirtuose Field kann für seine Konzerte in St. Petersburg oder Moskau horrende Gagen verlangen. Und lässt sich ähnlich großzügig für Klavierstunden entlohnen. Entsprechend luxuriös lebt der Ire, und auch er – Dussek lässt grüßen – trinkt exzessiv, am liebsten Champagner. Sein Lebensstil und seine Eskapaden werden als skandalös empfunden. Auch Fields Gesundheit ist schließlich zerrüttet, er stirbt 1837 in Moskau.

Kampf der Titanen

Auch den aus Salzburg stammenden Pianisten Joseph Woelfl, der in seiner Heimatstadt bei Mozarts Unterricht erhielt, zog es 1805 nach London. Da hatte er mit über dreißig bereits eine musikalische Laufbahn hinter sich. In jener Zeit waren Klavierwettkämpfe en vogue, das heißt zwei Meister trafen sich zu Duellen, die bedeutsam waren im Ringen um Mäzene, Schülerinnen und Schüler, Verleger und Veranstalter. In Wien war Beethoven mehrfach Kontrahent Woelfls. Eine Auseinandersetzung, aus der laut Überlieferung kein eindeutiger Sieger hervorging. Anders beim Wettstreit des Wiener Titanen mit dem heute vergessenen Daniel Steibelt aus Berlin. Eine erste Runde geht an den angereisten Herausforderer, in einer zweiten soll der Platzhirsch seinen Kontrahenten buchstäblich aus dem Saal gespielt haben. Beethovens Wildheit am Klavier machte damals Furore. „Wer seine musikalischen Ausflüge in die Klang- und Ideenwelt des Klaviers erlebt hat, war überwältigt von der Intensität und der inspirierten Energie, die sein erfindungsreiches und ausdrucksstarkes Spiel auszeichneten.“ Wegen seiner zunehmenden Taubheit trat er ab 1814 nicht mehr öffentlich auf. Auch war Beethoven eigenwillig und unbequem. Auf mancher Abendgesellschaft, zu der ein Mäzen geladen hatte, weigerte er sich zu spielen, wie sein zeitweiliger Assistent, der Pianist und Komponist Ferdinand Ries berichtet. Auch Ries verbringt eine Zeit in London und etabliert sich als Klavierlehrer und Direktor der Philharmonic Society, als der er bei Beethoven dessen neunte Sinfonie bestellt.

Modeinstrument Klavier, Virtuosen und Unternehmer

Das angebrochene neunzehnte wird nun zum Jahrhundert des Klaviers. Auch Carl Czerny (1791-1857), ein Schüler Beethovens, ist einer dieser Klaviervirtuosen, der gleichzeitig unterrichtet und komponiert. Seine Lehrwerke für das Instrument sind bis heute berühmt. Zu Czernys Zeit gab es bereits etwa 1600 Klavierlehrer in Wien. Sein berühmtester Schüler wird Franz Liszt, auch er wie viele Andere getrieben von einem ehrgeizigen Vater. 
Die Klaviermode der Zeit bringt es mit sich, dass – für einen größeren Wert auf dem Heiratsmarkt – vor allem höhere Töchter des Bürgertums zum Spiel verpflichtet werden. Ihr großes Vorbild wird Clara Schumann. Gelernt wurde das Instrument auch, um als Gattin oder Tochter für den Herrn des Hauses bei Gesellschaften aufzuspielen.
Einer der Stars unter den Virtuosen und Pädagogen des frühen 19. Jahrhunderts ist Friedrich Kalkbrenner (1785-1849), dem der junge Chopin in Paris einmal vorspielte. Der geschäftstüchtige Kalkbrenner war Teilhaber der 1807 gegründeten Klavierfabrik von Ignaz Pleyel, dem Musikunternehmer seiner Zeit. Als Komponist war der in Niederösterreich geborene Pleyel Schüler von Haydn, später als Wahl-Franzose in allen seinen Unternehmungen Marktführer: „Wie kein anderer vor ihm hielt Pleyel und Co. die Dreieinigkeit der musikalischen Reproduktion besetzt, nicht nur in Paris. Tout le monde spielte Pleyels Musik nach Pleyels Noten auf Klavieren von Pleyel.“
Da das Klavier zum „ersten musikalischen Massenmedium“ wird, werden auch die verschiedensten physischen Hilfsmittel, es zu erlernen, mechanische Apparaturen, auf den Markt geworfen. Bekannt und erfolgreich wurde der von Johann Bernhard Logier patentierte Chiroplast: „Ein über die Klaviatur geschraubter Stellungsrahmen, an dem Handgelenk- und Fingerführer befestigt sind, fesselt die Kinderhände wie ein Schraubstock in der gewünschten Position über den Tasten ans Instrument.“ Prominentestes Opfer dieser Apparate wurde Robert Schumann. „Die von ihm selbst erdachte Vorrichtung ruinierte ihm den Ringfinger der rechten Hand.“

Überblick über die Folgen und zu den Manuskripten. Online-Nachhören nur 7 Tage.

Ein Instrument spielt verrückt

Klaviere, Karrieren und Krisen um 1800

Von und mit Wolfgang Scherer
Fünf Folgen vom 28.9. bis 2.10.

SWR2, Reihe: Musikstunde
28. September 2015, 9.05 Uhr, 55 min.