Ein „normaler“ Lebenslauf, meint Heinz „Coco“ Schumann zu Beginn dieses Radioporträts, enthält die üblichen Stationen von der Einschulung bis zur Rente. „Was ich durchgemacht habe … da muss ein anderer Mensch fünf Leben haben …“ 1924 in Berlin als Sohn einer jüdischen Mutter geboren, von klein auf jazz- und swingbegeistert und schon als Teenager Mitglied verschiedener Bands, brachte ihn seine Herkunft schließlich doch nach Theresienstadt, Auschwitz und Dachau – Coco Schumann schaffte es, die Hölle zu überleben. Denn, so die Autorin, immer, wenn er ganz unten war, traf er jemanden, der ihn erkannte und ihm half. Zurückgekehrt konnte er nach dem Krieg immer noch blutjung seine Musikerkarriere neu starten.
Vom Swing infiziert
Schon der kleine Heinz inhalierte den Swing, wo er ihm begegnete, anfangs in Form von Schallplatten. Benny Goodman, Teddy Stauffer und die ganz junge Ella Fitzgerald waren seine Helden. Verwandte überlassen ihm eine Gitarre und ein Schlagzeug, Heinz übt wie besessen, hat erste Auftritte in Berliner Bars und bekommt Gitarrenunterricht von dem damals prominenten Hans Korseck.
Für die Nazis ist Swing selbstverständlich „undeutsch“, ein Verbot des „Nigger-Jazz“ lässt sich aber nicht durchsetzen. Dazu ist die Musik zu populär und mitunter sogar bei strammen SS-Leuten beliebt. Heinz, inzwischen unter dem Künstlernamen Coco, ist jung und unbekümmert – und geht ein großes Risiko ein: als Jude, Minderjähriger und ohne Lizenz der Reichsmusikkammer tritt er in Clubs auf. Bei Kontrollen oder Razzien ist er frech „immer draufzugegangen“. Einmal sogar auf einen SS-Mann in der Rosita-Bar. Sein vermeintlich scherzhaftes Geständnis, Jude und minderjährig zu sein, erntete Gelächter, wie Coco es in diesem Radio-Porträt erzählt. Auf diese Weise entging er lange der Verhaftung.
Theresienstadt, Auschwitz, Dachau
Als er aber 1943 zur Kripo bestellt wird, muss Coco denunziert worden sein. Eigentlich sollte er nach Auschwitz deportiert werden, dank des Einsatzes seines Vaters kommt er nach Theresienstadt, wo er seine Großeltern noch einmal sieht. Auch im Ghetto wurde er von ihm vertrauter Musik aus einem Caféhaus angezogen, in dem er einige der Musiker kennt. Als er erfährt, dass der Lagerkapelle „Ghetto-Swingers“ der nach Auschwitz überstellte Schlagzeuger verlorengegangen war, kann Coco dank seiner Drum-Erfahrungen dessen Platz einnehmen.
In Theresienstadt konnte er Musik machen und, wie er sagt, ein „verhältnismäßig normales Leben“ führen. Bis auch Coco, es ist Herbst 1944, auf den Transport nach Auschwitz gelangt. Im Lager Birkenau hat er erneut Glück: Er wird von Heinz, einem ehemaligen Berliner Croupier, wiedererkannt. Heinz hat eine erhöhte Position, er ist Blockältester und weiß, dass der Lagerälteste gerade eine Zigeunerkapelle verloren hat, deren Mitglieder ins Gas getrieben wurden. Der Plan, mit Coco eine Nachfolgeband zu organisieren, geht auf. Er findet sogar eine richtig gute Gitarre, deren Vorbesitzer ermordet wurde. Mit einem nächsten Transport aus Theresienstadt kommen weitere Mitglieder der Ghetto-Swingers, die Band existiert also quasi weiter. Gespielt wird nun auch am Lagertor für Häftlinge, die ins Gas gehen. Dies ausgehalten zu haben und selbst zu überleben, verdanke er, so Coco, seiner Frohnatur. Er habe auch in der schlimmsten Situation einen Witz auf Lager gehabt. Als Musiker hatte er in Auschwitz große Vergünstigungen.
Kurz vor der Befreiung des Lagers im Januar 1945 geht es nach vier Monaten Auschwitz für Coco nach Kaufering, ein Nebenlager von Dachau. Ende April wird dieses Lager aufgelöst, ein Marsch nach Süden beginnt. Als dieser Zug auf die Amerikaner trifft, ist er gerettet.
Musik nach dem Krieg
Daheim in Berlin hatte selbst seine Familie angenommen, dass Coco nicht mehr am Leben sei. Zuerst ging er zu einem Onkel in Pankow und erfuhr, dass auch seine Eltern am Leben und wieder in Berlin waren. In einer Bar trifft er Bully Buhlan wieder, den er schon vor seiner Verhaftung kannte. Seine Musikerkollegen von einst glaubten, sie sähen ein Gespenst.
Nach dem Krieg wollten die Menschen sich amüsieren, tanzen, den Krieg vergessen. Eine Chance auch für den Musiker Coco Schumann. „Die Leute waren ja ausgehungert“ und „sogen das auf wie einen Schwamm.“ Ein Jahr lang machte er Barmusik. Dann sah er den Geiger Helmut Zacharias wieder, mit dem er ebenfalls schon vor seiner Verhaftung gemeinsam musiziert hatte. Er wurde Mitglied des Helmut Zacharias Quartetts und mehrmals zum besten Jazz-Gitarristen Deutschlands gewählt. Dann aber holt ihn die Vergangenheit ein bzw. kommt er zu der Erkenntnis, dass das neue Deutschland die seine nicht wirklich abgelegt hatte. Coco „…wusste nicht mehr, ob Deutschland noch mein Heimatland ist und … wollte weg von hier.“
Australien
Mit Ehefrau Gertraud und Stiefsohn Peter ging er 1950 nach Australien, eigentlich unter der Bedingung, jede Arbeit anzunehmen. Bei einer unerwarteten Gelegenheit hatte Coco die Chuzpe, Arbeitsminister Armstrong anzusprechen, dass er als Musiker doch wenigstens in eine größere Stadt kommen wollte, um nicht vollkommen von der Musik weg zu sein. Es wurde ein Vermerk gemacht, der ihm später tatsächlich half, nach Melbourne zu kommen, wo er aber in einer Marmeladenfabrik arbeiten musste. Er ging einfach mal mit seiner Gitarre in „die beste Musikbar“ (das war die Oran Coffee Lounge), wo er schließlich offiziell, um seinen Vertrag zu erfüllen, als Küchenhelfer arbeitete, tatsächlich aber Musik machte. Down under nimmt er sogar im Tonstudio auf. Eine hervorragende Zeitungskritik aus Australien hob er auf.
Obwohl sich Coco bereits einen Namen im fremden Land gemacht hat, fühlt er sich in Australien auf Dauer nicht wohl. Es ist ein konservatives Land. Zum Beispiel konnte er sich als Nachtmensch nicht daran gewöhnen, dass ab Mitternacht in Melbourne nichts mehr geöffnet hatte. Coco langweilte sich.
Wieder in Berlin
1955 ist er wieder in Berlin. Für Jazzmusiker waren das keine guten Zeiten, angesagt waren Schlager. Coco Schumann aber ist anpassungsfähig – Hauptsache, Musik swingt: „Wenn Musik nicht swingt, ist sie tot…“ Und es sei eben, wie Louis Armstrong einmal zu ihm sagte, „nicht so wichtig, was du spielst, es ist wichtig, wie du spielst“ – „das habe ich mir ganz doll gemerkt“. Coco konnte auch den Publikumsgeschmack bedienen, für Menschen von 17 bis 80 – im Hilton zum Beispiel wurde sehr gut bezahlt. Er hat eben von der Musik gelebt und kam auch über Flauten hinweg.
Auf Kreuzfahrt
Sein Freund Bully Buhlan hat ihm während eines gemeinsamen Musikerlebens viel vermittelt. 1970 ging es für Coco von Bully angeregt mit einer Band auf Kreuzfahrt für Neckermann, „eine meiner schönsten Zeiten“. Er sieht die ganze Welt und lebt dabei wie die Made im Speck: Mitternachtsbuffet, Kaviar satt… Als Bandleader hatte er sogar einen eigenen Steward. Jede Nacht spielen ist aber auch Knochenarbeit und auf die Dauer eintönig, das ewige Schönwetterklima strengt an – also verlässt er das Kreuzfahrtschiff wieder.
In Berlin eröffnet Coco eine eigene kurzlebige Bar. Er reduziert seine Auftritte und unterrichtet klassische Gitarre in der Musikschule Zehlendorf, das wird sein täglich Brot. Mit 60 beschließt er, nur noch Jazzmusik zu spielen – back to the roots sozusagen. Und das war schwierig, er musste wieder richtig üben. Der Jazz, wie er einmal war – also auch Cocos Art, Traditionals zu spielen –, wird wieder populär. Und Coco begann, nach vier Jahrzehnten von Auschwitz zu erzählen, was er jahrelang verdrängt hatte. Denn: „Wer einmal in Auschwitz war, bleibt immer drin.“ An einer Stelle dieses Radio-Porträts sagt er: „Ich war in der Hölle, Dantes Inferno. Ich kann nicht begreifen, dass ich hier sitze und das überlebt habe, während Millionen … warum? Wieso?“ Sein Motto ist dennoch: „Ich bin nicht unglücklich, dass ich da drin war, ich bin so froh, dass ich raus gekommen bin.“ Die gute Laune habe er sich nie nehmen lassen wollen.
WDR 3 wiederholte dieses Porträt im Rahmen seiner Kulturfeature-Reihe im August „Tonspuren – Die Rückkehrer“.
Nachtrag: Im letzten Jahr konnte Coco Schumann seinen 90. Geburtstag feiern. Sehr viel ausführlicher erzählt er seine Lebensgeschichte in der Autobiographie „Der Ghetto-Swinger. Eine Jazzlegende erzählt“, die 2011 in der 7. Auflage erschien. Aus diesem Buch ist auch zu erfahren wie es – wohl im Jahr 1942 – zum Künstlernamen Coco kam: Eine französische Freundin redete ihn, weil das „h“ eben in ihrer Sprache nicht ausgesprochen wird, immer mit „Einz“ an. Das nervte den Empfänger auf die Dauer, so dass die Freundin beschloss, ihn „Chéri Coco“ zu nennen. Anfangs skeptisch, fand Heinz, dass dieser Kosename bei Weglassung des „Chéri“ doch ein geeigneter und unverwechselbarer Künstlername sei. „Als die ersten Aufnahmen mit diesem Namen erschienen, war der Fall endgültig klar.“