Deutschlandfunk, 16. Juni 2015

Die Volten des Lebens

Rückkehr der jüdischen Kriegsüberlebenden Lila Binenstzok aus Brasilien in ihren Heimatort Pinsk

Zwei Filmemacher, die Autoren dieses Features, werden von einem befreundeten Filmproduzenten aus Rio kontaktiert, um einen Aufenthalt in Polen und Weißrussland vorzubereiten. Und das in Windeseile. Mit etwas Glück – zufälligen persönlichen Kontakten – gelingt es. 
Ihre Reisegefährten lernen sie nun erst kennen: Die Brasilianerin Liliana Sirkis, die als junges Mädchen in Polen Lila Binenstzok hieß, mit 92, wie die Autoren versichern, „eine ausnehmend schöne Frau“. Daneben ihre Schwester Jeanette und ihr Sohn Alfredo, Mitte 60. Für die Reise erfindet die Gesellschaft, dass alle zu einer Familie gehören.
Alfredo Sirkis, heute brasilianischer Grünen-Politiker, der als 19-jähriger Guerillero zu einem Kommando gehörte, das (damals während der Militärdiktatur) den deutschen Botschafter entführte, hat in seinem Buch „Der polnische Korridor“ die Geschichte seiner Eltern während des Zweiten Weltkriegs als Fiktion geschrieben. Er hat seine über 90-jährige Mutter dazu gebracht, sich auf die Spuren ihrer ersten Lebensjahre in Pinsk im heutigen Weißrussland, das damals zu Polen gehörte, zu begeben.

Erste Station Warschau

Lila will in Warschau, wo sie von Paris aus ankommt, an das Grab und Monument des berühmten Kinderpädagogen Janusz Korczak, der mit jüdischen Waisenkindern im Krieg nach Treblinka deportiert wurde. Ein Besuch im von Korczak gegründeten Waisenhaus, das heute unter anderem ein Kinderheim beherbergt, folgt.

Über Brest nach Pinsk

Alfredo will schon einen Tag früher, als das Visum ausgestellt ist, nach Pinsk. Dazu kontaktiert er die brasilianischen Botschaften in Warschau und Minsk. Für ihn als Diplomaten ist der Grenzübertritt kein Problem, aber auch dem deutschen Teil der Reisegruppe wird die Einreise gestattet. Mitten in der Nacht trifft die Reisegesellschaft im Hotel in Brest ein. Am nächsten Morgen geht die Fahrt weiter nach Pinsk.
Lila erinnert sich an eine „glückliche Kindheit“ in Pinsk. Anders als ihre Schwester kann sie sich an den damaligen Namen der Straße, in der sie gewohnt haben, erinnern. Diese Straße wird nun gesucht. Dazu Lilas Erinnerungen: Sie konnte nicht schwimmen, aber gut Schlittschuhlaufen. Ihr Vater Alfred Binenstzok kam 1920 mit der vordringenden polnischen Armee nach Pinsk, verliebte sich in Lilas Mutter und blieb.

Als weißrussische Sicherheitsleute auftauchen, wollen sie sofort das Filmen unterbinden. Lila spricht sie auf russisch an, womit sich die Lage sofort ändert, später gibt Lila sogar ein Fernsehinterview.

Durch Deportation das Leben gerettet

Als sie als junges Mädchen nach dem Eintreffen der Sowjetarmee 1939 mit Mutter und Schwester nach Sibirien deportiert wird, rettet ihr dies das Leben. Denn in Pinsk fand während des Feldzuges der Wehrmacht ab 1941 ein Massaker an der Zivilbevölkerung statt: 30.000 wurden ermordet. In den 30er Jahren hatte Pinsk 30.000 Einwohner, davon 27.000 Juden. Lila weist darauf hin, dass „viele Leute aus der israelischen Politik“ aus Pinsk kamen. Im dortigen Regionalmuseum fehlt das jüdische Leben vor 1941. Ein Stapel Fotos aus der Zeit vor 1939 wird gefunden. Lila erkennt vieles und erinnert sich. Sie erzählt und ironisiert die eigene Lebenstragik.

Erkundungen in Pinsk

In Pinsk sprechen sie mit Einwohnern, um unter anderem Lilas altes Wohnhaus wiederzufinden, der Straßenname ist heute ein anderer. Die alte Dame ist sich aber nicht sicher, das Haus ihrer Kindheit genau wiederzufinden. Das jüdische Gymnasium gibt es nicht mehr.

Ein Nachkriegsschicksal

1945, nach fünf Jahren in Sibirien, kommt Lila zunächst nach Breslau, dann nach Warschau – ihre Heimatstadt war von den Russen besetzt. Sie will zunächst in Polen bleiben. Wegen des Pogroms in Kielce (wo polnische Juden, die aus Sibirien zurückgekommen waren, ermordet wurden) aber verlässt sie das Land – zunächst 1946 nach Schweden, ein knappes Jahr später nach Brasilien, wo bereits der Onkel war. Sie wurde Schneiderin und fertigte gut 60 Jahre lang Haute Couture für Rios High Society.

„Ja, das Leben schlägt merkwürdige Volten“, sagt Lila an einer Stelle des Features – bezogen auf ihre Deportation, die ihr ein hartes Schicksal, aber das Überleben bescherte. Und diese Volten dauern auch für die über 90-Jährige an: mit einem Wiedersehen ihrer Heimatstadt nach 75 Jahren.

Der Familienausflug oder Kalte Tage in Pinsk

Die wahre Geschichte der Lila Binenstzok

Von Christoph Goldmann und Leif Karpe
Sprecher: Axel Wandtke, Ilse Strambowski, Jochen Kolenda und andere
Regie: Matthias Kapohl
Produktion: Deutschlandfunk 2015

Deutschlandfunk, Reihe: Das Feature
16. Juni 2015, 19.15 Uhr, 45 min.