
Am 12. Juli 1955 ging beim SDR in Stuttgart erstmals der Radio-Essay auf Sendung. Seit der Fusion mit dem SWF nunmehr beim SWR angesiedelt, blickt die Reihe in diesem Jahr auf 60 Jahre Bestehen zurück.
Erster Redakteur des Radio-Essays war – nur für kurze Zeit – Alfred Andersch. Die erste Phase des Programms war von großen Autorennamen geprägt wie Arno Schmidt oder Ingeborg Bachmann. Geschrieben von Max Frisch, Regie Martin Walser, das war für diese frühe Zeit nicht untypisch, wie Stephan Krass, heutiger Redakteur, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk erläutert. Radio-Essay war damals, so Krass weiter, ein Sammelbegriff für unterschiedliche Sendeformen wie Feature, Diskussion, auch Musiksendungen, im Grunde für das ganze Programm.
Häufiger Autor der ersten Jahre war auch der Philosoph Max Bense (1910-1990), von dem der Sender einen Beitrag aus dem Jahr 1959 über die US-amerikanische Schriftstellerin Gertrude Stein (1874-1946), die mehr als die Hälfte ihres Lebens in Paris verbrachte, aus dem Archiv geholt hat.
Dialog-Form
Die Sendung ist aufgebaut als Dialog mit einem Gertrude-Stein-„Fachmann“ und einem Gesprächspartner, der einen guten „Sparringspartner“ mit breiterer Kenntnis abgibt. Stephan Krass erhellt dazu, dass in der Frühzeit des Radio-Essays viel dialogisch geschrieben wurde, was dann, wie in diesem Beispiel, von Schauspielern im Studio inszeniert wurde. Der „Radio-Dialog“ sei damals ein eigenes Genre gewesen.
Inhaltlich geht es um die Ästhetik wie um die Person mit einem Lebensüberblick von Gertrude Stein. Sie stammte aus einer reichen Familie aus Pennsylvania, verbrachte einen Großteil ihrer Jugend in San Francisco, lernte Europa schon früh kennen, auch Paris, das schließlich ihre Wahlheimat werden sollte. An der Radcliffe-Universität begann Gertrude Stein als Schülerin von William James zu schreiben. Der Psychologe und Philosoph „begründete damals gerade seine Auffassung vom ,consciousness stream‘, vom ,Bewusstseins-Strom‘“, der dann auch Eingang in die Literatur fand, auch der von Gertrude Stein. Sie und Henry James, Williams Bruder, waren die ersten emigrierten US-Autoren, die in Europa blieben. Nach ihnen kamen zum Beispiel Ernest Hemingway, John Dos Passos und F. Scott Fitzgerald.
Ästhetik
„Gertrude Steins Texte sind ästhetische Botschaften; ihre Bedeutung, also die semantische Botschaft, bleibt außerhalb der Kommunikation.“ Illustriert wird dies an einem Gedicht Gertrude Steins, „If I Told Him: A Completed Portrait of Picasso“, das in der deutschen Übersetzung zu hören ist, die selben Verse aber auch rezitiert von der Dichterin im Original. Wie etwa:
If I told him would he like it. Would he like it if I told him.
Would he like it would Napoleon would Napoleon […]
Shutters shut and open so do queens. Shutters shut and shutters and so shutters shut and shutters and so and so […]
Im Original noch deutlicher wird neben der „Technik der Wiederholung“ (Autor) der lautliche Gleichklang, ein Spiel mit der Sprache. Dazu kommt, dass von dem Gegenstand des Porträts gar nicht die Rede ist: ein Stil der Verschlüsselung. Der Text sei entscheidend als selbstständiges sprachliches Gebilde, nicht der Gegenstand, auf den er sich bezieht. Max Bense beharrt dann noch auf „Text“ als Gattung in Abgrenzung zu Poesie und Prosa: „Prosa und Poesie sind unablösbar von der Bedeutung dessen, was in ihnen gesagt wird. Ein Text dagegen wäre aufzufassen als reine sprachliche Materialität, in die Bedeutung erst einfließen müsste“.
Gertrude Steins Werk sei „ein einziges großes Versuchsfeld für moderne Literatur“. Das Experimentelle sei als das Ästhetische zu bewerten. „In dieser Hinsicht ist Gertrude Stein sicher neben James Joyce zu stellen, vielleicht sogar noch darüber.“
Dies alles wird in dem historischen Radio-Essay sehr viel ergiebiger entwickelt, durchaus anstrengend in der Dichte der Information. Hingewiesen sei noch auf das vom Sender bereitgestellte Manuskript, bei dem es sich um einen Scan des originalen Archiv-Dokuments handelt: geschrieben mit der mechanischen Schreibmaschine, dazu handschriftliche Notizen. So wird zum Beispiel nebenbei daran erinnert, dass es 1959 zwei SDR-Radioprogramme, ein Mittelwellen- und ein UKW-Programm gab. Als hätte man sich selbst ins Archiv begeben: kurios!