„Wir leben in einer Zeit, die die Seelen der Menschen verwirrt. Der Sommersoldat, der Sonnenscheinpatriot, er drückt sich stets in einer solchen Krise. Doch nur wer jetzt durchhält, hat sie sich wirklich verdient, die Liebe und den Dank von Frau und Mann“ (Thomas Paine, The American Crisis, 1776).
Anfang des Jahres 1971 trafen sich in Detroit über 100 Veteranen und Zivilisten zur „Winter Soldier Investigation“, organisiert von den „Vietnam Veterans Against The War“ (VVAW). Prominenteste Teilnehmer waren der spätere US-Präsidentschaftskandidat und heutige Außenminister John Kerry und der nachmalige politische Aktivist Scott Camil, der auch im Hörspiel zu Wort kommt. Sie berichteten von ihren Kriegsverbrechen, aber auch von den erlittenen Traumata. Das dreitägige Hearing wurde dokumentiert in dem Film „Winter Soldier“, der 1972 in die Kinos kam. Das Hörspiel „Wintersoldat“ beruht zum einen auf diesem Film, andererseits auf den Dokumenten des VVAW.
Der Name des Forums „Winter Soldier“ ist abgeleitet von den im Hörspiel anfangs (siehe oben) zitierten einleitenden Worten zu „The American Crisis“, einer Serie von Schriften von Thomas Paine, einem der Gründungsväter der Vereinigten Staaten. Dort ist vom „Sommer Soldaten“ die Rede.
Grausamkeiten der US Army in Vietnam
Die als Zeugen auftretenden Kriegsveteranen werden nach Namen, Alter, militärischer Ausbildung, Dienstgrad und in welchem Zeitraum sie in Vietnam waren, gefragt. Dann geht es ohne Umschweife um die Kriegsverbrechen, Grausamkeiten, Massaker, Folter der US-Armee in Vietnam.
Wie gleich zu Beginn: Hast du es gesehen? Wurden Gefangene aus dem Helikopter geworfen? Das habe ich gesehen. – Dazu kam dann noch ein Wettbewerb, wer die „gefesselten Kerle“ am weitesten aus dem Flieger werfen konnte.
Oder es wurden Dörfer niedergebrannt, nur, um ein Exempel zu statuieren, die Dorfbewohner wurden ausnahmslos getötet. Man hört in diesem Hörspiel auch von der „Kaninchen-Lektion“ (rabbit-lesson), die den Wehrpflichtigen noch während der Grundausbildung daheim erteilt wurde: Einem lebenden Tier wurde das Genick gebrochen, die Haut abgezogen, es wurde ausgeweidet und mit den Eingeweiden nach den Gefreiten geworfen. „Das ist das letzte, was ihr lernt, bevor ihr nach Vietnam kommt.“ Und – einer der Teilnehmer der „Investigation“ erzählt, wie in Vietnam eine Frau ganz ähnlich verstümmelt wurde.
Die US-Infanteristen in Vietnam setzten CS-Gas ein, weißer Phosphor, für den der Slang-Ausdruck „Willy Pete“ verwendet wird. „Wahrscheinlich das Schlimmste, was ich je gesehen habe, waren Leute, die von weißem Phosphor verbrannt wurden. Weil es einfach nicht aufhört zu brennen, es brennt sich durch den ganzen Körper hindurch…“
Indoktrination der Soldaten
Wie konnten die GIs zu so grausamen Handlungen gebracht werden und dagegen offensichtlich abstumpfen? Oder wie während des Hearings gefragt wird: „Was haben die Männer in deiner Einheit darüber gedacht – fanden sie es richtig, die Vietnamesen so zu behandeln?“ „Wir haben in ihnen keine Menschen gesehen“. Geschossen wurde nicht auf Menschen, sondern auf „gooks“ (verächtlich für Asiaten) oder „commies“ (Kommunisten). „Für uns waren sie minderwertig. Wir waren Amerikaner, wir waren das zivilisierte Volk“. Und zu dieser Einstellung wurden die Wehrpflichtigen schon während der Grundausbildung konditioniert. Mehrmals sprechen die Interviewten in diesem Hörspiel von Gehirnwäsche („sufficiently brainwashed“). Da wird zum Beispiel erzählt, dass jeden Abend während der Grundausbildung im Bett die „Marine Corps Hymn“ gesungen wurde: „Pray for war … God bless the marine corps“. Außerdem wurden die Gefreiten erniedrigt und entmenschlicht, „Scheißhaufen“ für ihre Vorgesetzten. „Nur wenn sie Teile deines Verstands für eine Weile abbauen können, können sie dich dazu bringen, alles zu machen, was sie wollen.“ Nach allem, was den Wehrpflichtigen widerfuhr, waren sie am Ende der Grundausbildung „derart motiviert: Ich hätte mich für 50 Jahre verpflichtet.“
Umdenken
Wie die „Winter Soldier Investigation“ zeigt, setzte jedenfalls bei einigen der GIs zurück in den USA ein Umdenken ein – durch Gespräche etwa mit Wehrpflichtigen, wie einer von ihnen erzählt: „Ja, mir wurde bewusst, dass das, was ich dort getan habe, nicht richtig war.“ Gemeinsam mit anderen Veteranen kann es zu einer Neubesinnung kommen. Die Indoktrination und das Training als Armeeangehörige erzeugen einen völlig anderen Menschen „und erst, wenn du das begreifst, erkennst du auch, dass alles eine Lüge war…“
„Ich habe lange versucht, dies alles zu rechtfertigen, gerade weil ich wusste, dass es falsch war. … Weil ich es ja getan habe … Musste mir eingestehen, dass es falsch war, was ich getan habe … musste versuchen, anderen davon zu erzählen … damit nicht immer wieder die gleichen Fehler gemacht werden … damit es endlich ein Ende hat.“ Erst 1975 fand der Krieg in Vietnam ein Ende. Der Krieg in Vietnam…
Das Hörspiel, das verfremdete Musik bzw. Elektronik benutzt, aber auch streckenweise auf die Stimmen begleitenden Sound verzichtet und gelegentlich den englischen Ton der Originaldokumente einstreut, sollte bereits im Oktober 2014 gesendet werden. Dass es jetzt über ein halbes Jahr später in die Nachtstunden gelegt wurde, könnte damit begründet sein, dass das, was da in den Aussagen der Veteranen zu hören ist, auch für weniger zart Besaitete kaum zu ertragen ist – und daher in diesem Text nur angeschnitten wird. Das fast anderthalb Stunden lange Hörspiel wurde – Nachrichten verpflichten – innerhalb der Langen Nacht in zwei Teile aufgeteilt. Eine Sendung in einem Stück zu einem günstigeren Termin hätte es allemal verdient.