SWR2, 17. Juni 2015

Silicon Valley: die Schattenseiten des American Dream

„Zu viele reiche Leute produzieren eine Menge arme Leute“. Jake, 57, lebt im Auto. Das Campieren im Auto ist verboten – parken auch. Er versorgt sich in der Food Pantry, einer Ausgabestelle für Nahrungsmittel in San Jose. Der seit gut 50 Jahren bestehende Sacred Heart Community Service von San Jose bietet daneben auch Kleidung, Arbeit und ein Dach über dem Kopf. 350 Familien pro Tag, über 1000 Leute werden hier täglich versorgt. Laut der Statistik für 2014 leben in Santa Clara County, dessen Verwaltungssitz San Jose ist, 7000 Menschen auf der Straße, davon etwa ein Fünftel unter 18. Jake war mal Techniker mit eigener Firma, dann aber lief es schlecht, er landete sogar im Gefängnis. Und anschließend ist es unmöglich, wieder einen Job zu finden. Er sagt: Warum so viel Geld verdienen, dass man nicht mehr weiß, wohin damit? Manchmal repariert er ein Fahrrad oder ein Auto. Dass er allein steht, sieht er positiv: Niemand leidet mit. 
Brenda, die zweimal im Monat zu „Sacred Heart“ kommt, geht es etwas besser, sie hat eine Wohnung bekommen, wenn auch in einer miesen Gegend. Ihre Söhne, 10 und 14, sind, wie sie sagt, gut in der Schule. In den 80er Jahren war sie vergleichsweise wohlhabend, verheiratet, hatte ein Haus, guten Job, „alle Kreditkarten“. Mit der Scheidung kam der Abstieg. Heute lebt sie von 333 Dollar im Monat, bekommt Lebensmittelmarken (die verbreiteten „Food Stamps“), hat wegen langer Obdachlosigkeit einen Schein für eine Sozialwohnung. „Die Leute denken, Silicon Valley sei so reich. Aber manche können es sich nicht leisten, hier zu leben.“

Die zwei Amerikas

Die zwei Amerikas: Das der Superreichen und das für den großen Rest. Die Gegensätze sind meist größer als im Rest der Welt und die Kluft wird größer. Die Mehrheit ist ärmer geworden. Zwischen 2004 und 2013 fiel laut Federal Reserve das durchschnittliche Netto-Haushaltseinkommen von 115.000 Dollar auf nur noch 81.200 Dollar. Der Autor: „Das Silicon Valley ist der extreme Mikrokosmos einer sich tiefer spaltenden Nation. Weil die Kontraste hier noch größer sind. Weil man hier noch viel schneller noch viel tiefer fällt. Weil Menschen in ganz normalen Jobs – Hausmeister und Kindergärtnerinnen, Fahrer, Lehrer, Kellner – im Silicon Valley selbst mit Überstunden kaum genug verdienen, um eine Miete aufzubringen.“ Bricht ein Gehalt weg, kann das den Abstieg bedeuten. Wer am absoluten Minimum lebt, muss bei einem kaputten Auto wählen: Reparatur bezahlen oder Miete. 

Die Gegenwelt der Reichen

Die Gegenwelt, das Getto der Reichen, wird von privaten Wachdiensten geschützt. Los Altos, ein 30.000-Einwohner-Städtchen, das ebenfalls zu Santa Clara County gehört. Maklerin Kathy ist im silbernen Mercedes vorgefahren, um eine Luxusvilla mit Pool und Gästehaus in „erstklassiger Downtown Location“ zu verkaufen. Die Garage kann vier Wagen aufnehmen. „Es ist verrückt“, räumt Kathy ein, „all diese Hightech-Leute und die Google-Leute im Silicon Valley gehen mit ihrem Geld wie mit Spielgeld um.“ Wenn ein Haus wie dieses zu einem bestimmten Preis inseriert wird, überbieten sich die Interessenten mehrfach. Die genannte Villa wird schließlich für 5,77 Millionen Dollar verkauft. Kathy war mal Lehrerin. Was sie jetzt verdient, sind ganz andere Dimensionen, es läuft gut für sie. 

Ringen um gewerkschaftliche Organisation

Einige immerhin wollen ihre Bedingungen nicht mehr hinnehmen: Die Busfahrer von Facebook wollen sich mit Unterstützung der Teamsters – Fahrer-Gewerkschaft – gewerkschaftlich organisieren. Ihre Arbeitszeiten bestehen aus geteilten Schichten von frühmorgens bis abends mit einer längeren Pause dazwischen. Mit einem Stundenlohn von 18 Dollar müssen, wenn man in der Bay Area wohnt, 2000 Dollar Miete, hohe Beiträge für die Krankenversicherung neben natürlich weiteren Kosten beglichen werden. 
Adolph Felix lässt bei einer Diskussion der Gewerkschafter von Teamsters die Entwicklung der Fabrikproduktion Revue passieren. Aus der Bay Area sind die Fabriken längst verschwunden. Zunächst zogen sie innerhalb der USA dahin, wo die Löhne niedriger waren oder Gewerkschaften nicht so stark – wie in Nevada. Dann zogen die Jobs nach Mexiko, schließlich nach China. Mit jeder Krise gebe es weniger Arbeit, schon gar nicht für Gewerkschafter. Die Gesetze seien arbeiterfeindlich, heutzutage seien kaum noch sieben Prozent der Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft gewerkschaftlich organisiert. Und die illegalen Arbeiter verdienen noch weitaus weniger als den Mindestlohn. Konzerne könnten Wahlen einfach kaufen, sagt Adolph. „Und die Gesetze gleich dazu.“ Damit der amerikanische Traum wahr wird, ist ein College-Abschluss notwendig, für den sich heutzutage viele lebenslang verschulden. Ein zweijähriges MBA-Studium an der Graduate School of Business der Stanford University kostet über 185.000 Dollar. Und doch wird der „American Dream“ auch unter den Ärmsten hochgehalten, wie das Feature am Beispiel der 18-jährigen Gaby („vielleicht werde ich auch mal so reich“) zeigt. Immerhin: Die Facebook-Fahrer beschlossen tatsächlich, sich zu organisieren und konnten mit Hilfe der Teamsters bessere Bedingungen durchsetzen. 
Ben Field vom Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO bringt es auf den Punkt: „Der Trend ist: Eine kleine Gruppe wird enorm reich, während die Mittelschicht dramatisch schrumpft. Es gibt Jobwachstum im Silicon Valley. Aber die übergroße Mehrzahl dieser Jobs ist im schlecht bezahlten Dienstleistungssektor.“

Vom Autor Tom Schimmeck wurden zuletzt unter anderem gesendet: „Gewinn und Gewissen: Luxemburg geht neue Wege“ und „Die Zeit der Helden ist vorbei. Südafrikas Befreier an der Macht“. 

Silicon Blues

Im Hinterhof eines Mythos

Feature von Tom Schimmeck
Mit Jonas Baeck, Hanna Plaß, Doris Wolters und anderen
Regie: Nikolai von Koslowski
SWR 2015

SWR2, Reihe: Feature
17. Juni 2015, 22.03 Uhr, 57 min.