NDR Kultur, 10. Juni 2015

Pierre Boulez: Ich bin ein Wiener

Aus Anlass des 90. Geburtstags: ein Podiumsgespräch in Berlin
Pierre Boulez (1968)
Pierre Boulez (1968)

Daniel Barenboim, der Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper, ist ein Freund von Pierre Boulez, beide kennen sich seit über 50 Jahren. Bei den diesjährigen Festtagen seines Hauses hat der Dirigent Werke des Franzosen anlässlich dessen 90. Geburtstags aufgeführt. Zudem fand am 28. März im Schiller-Theater, inzwischen seit Jahren Ausweichquartier der in Sanierung befindlichen Staatsoper, ein Podiumsgespräch zu Pierre Boulez statt, der gerade zwei Tage zuvor seinen 90. Geburtstag hatte feiern können, aus Altersgründen aber zu den Festtagen nicht anreiste. 
Alle Teilnehmer des Gesprächs haben neben der künstlerischen auch eine menschliche Beziehung zu der großen Persönlichkeit der Musikavantgarde. Neben Barenboim selbst waren es der Komponist und Klarinettist Jörg Widmann, der Soloflötist der Wiener Philharmoniker Karl-Heinz Schütz, der Pianist und Dirigent Michael Wendeberg und mit dem Geiger Clemens Hellsberg ein weiteres Mitglied des Wiener Edelklangkörpers aus der Gruppe der ersten Violinen. 

Daniel Barenboim erinnerte unter anderem daran, dass Boulez als junger Musiker für die Verbreitung der Werke der Zweiten Wiener Schule über die spezialisierten Zirkel für zeitgenössische Musik hinaus eine bedeutende Rolle spielte. Ihm wie auch Jörg Widmann kam es darauf an zu unterstreichen, wie wenig tatsächlich Pierre Boulez seinem Ruf als lediglich kühler Rechner entspricht. 

Ratio und Gefühl

Der Hausherr hob neben Boulez’ außerordentlichen musikalischen Fähigkeiten dessen exzellentes Gehör („fantastisches Ohr“) hervor. Des Franzosen Haltung als Dirigent sei von Respekt vor dem Werk und dessen Text geprägt. Dies stehe im Zentrum. „Was verlangt das Stück von mir?“, nicht „Was kann ich in diesem Stück sehen?“, sei die Herangehensweise. Rationalität und Gefühl hätten das gleiche Gewicht. Hier assistiert Jörg Widmann, der meint, dass Boulez in seinen Schriften seine Interpreten bewusst in die Irre geführt, „genarrt“ habe, weil diese Texte dazu geführt hätten, das Emotionale, das Gefühl zu vernachlässigen. 
Widmann schildert sein erstes Erleben der Musik von Boulez in Straßburg mit dessen Stück „Répons“ als bestimmend für sein zukünftiges Schaffen. Auch er war zuvor vor dem angeblich rationalen, kopfgesteuerten Komponisten gewarnt worden. Stattdessen hörte Widmann „Klangeruptionen, Klangkaskaden“, einen „Orgasmus an Klangfarben“. 
Um einen besonderen Zug des Jubilars zu verdeutlichen, erzählt Widmann eine Geschichte, die sich um die Probe seines Werkes „Armonica“ mit dem damals 81-jährigen Pierre Boulez und den Wiener Philharmonikern zugetragen hat. Nach einer zweiten Probe bittet der Franzose seinen jungen Kollegen noch, mögliche Änderungswünsche für dessen Stück für die Generalprobe zu notieren, die er als Dirigent noch berücksichtigen sollte. Widmann beschreibt arglos eine DIN A 4-Seite eng mit etwa 20 Änderungen. Boulez’ überraschtes Gesicht, dies erblickend, ist dem Jüngeren peinlich, er sieht dann aber am nächsten Tag, dass sich der Dirigent jeden einzelnen Punkt in seine Partitur eingetragen hat. Jörg Widmann folgert daraus, dass Boulez auch diese Zusammenarbeit mit einem jungen Kollegen absolut ernst genommen hat – was unter den Altvorderen nicht die Regel sei –, ihn interessiere bis heute, was die junge Generation macht. Von keinem anderen Musiker, unterstreicht Widmann, habe er so viel gelernt. 

Clemens Hellsberg schließlich erzählt – es ist wohl 17 Jahre her –, wie Boulez einmal bei ihm zu Hause zum Abendessen eingeladen war. Seine Frau bat ihn, den Komponisten vorher zu fragen, ob dieser Wünsche oder unter Umständen auch Abneigungen bezüglich der angebotenen Speisen hätte. Boulez wünschte sich einen Tafelspitz, der ihm dann auch serviert wurde. Der Gast wandte sich nachträglich noch brieflich an seinen Gastgeber, um sich für diesen Abend zu bedanken. Hellsberg hatte dieses Schriftstück bei sich und zitierte wörtlich, nicht ohne auf den besonderen Bezug von Boulez’ Worten zu Berlin hinzuweisen: „Bitte grüßen Sie auch Ihre Frau und richten Sie ihr meinen Dank für das gelungene Abendessen und besonders für den Tafelspitz aus. Um Kennedy zu imitieren: Ich bin ein Wiener.“

„Ich bin ein Wiener!“

Eine Sendung von Margarete Zander
NDR Kultur, Reihe: Neue Musik
10. Juni 2015, 20.52 Uhr, 68 min.