Griechenland 2010: Ministerpräsident Giorgos Papandreou verkündet die desolate finanzielle Lage des Landes. Der IWF müsse um Hilfe angerufen werden. Ein hartes Sparprogramm wird aufgelegt, die Wirtschaftsleistung schrumpft in der Folge um 25 Prozent. In Armut lebt inzwischen jeder dritte Grieche. Die Folge ist auch eine Auswanderungswelle wie seit der Armutsauswanderung der 60er Jahre nicht mehr. Nach Ausbruch der Krise zieht es fast 40.000 Griechen auch nach Bayern.
Nikolaos, ein Enddreißiger, ist einer von ihnen. Seit 2012 ist er in München. Der Bauingenieur arbeitete zwar in der Heimat noch, nur wurde er nicht bezahlt – bei bis zu elf Stunden Arbeit am Tag. Und damit war er beileibe kein Einzelfall, die Menschen allerdings erdulden das angesichts der hohen Arbeitlosigkeit. Wenn Nikolaos in seinen Heimatort Kozani zurückkehrt, erlebt er, dass viele seiner Freunde krank sind, alle verschuldet, die Menschen einander fremd geworden.
„Tagebuch eines Arbeitslosen“
„Das Tagebuch eines Arbeitslosen“ ist ein vor zwei Jahren begonnenes Internetprojekt in griechischer Sprache. Es verleiht den sonst nur als Zahlen existierenden und in Schuld und Scham lebenden Betroffenen eine Stimme. Da postet etwa ein junger Mann, seit anderthalb Jahren arbeitslos, dass er nicht weiter durchhalten werde. Pleite, bis über beide Ohren verschuldet, rechnet er mit seinem baldigen Ende. Oder es wird von einer Stellenanzeige für eine Bürohilfe mit Computerkenntnissen erzählt, ein Teilzeitjob, 4 Stunden täglich für 150 Euro Monatslohn. Ergattert wurde er schließlich von einer Bewerberin, die für 110 Euro bereit war zu arbeiten.
Tragisch das Schicksal eines 48-Jährigen, das nicht von ihm selbst, sondern von einer Bekannten in der Vergangenheitsform aufgeschrieben wird. Giorgos, verheiratet, zwei Kinder, war wohl bereits gezwungen, zur Armenspeisung zu gehen. Die Bekannte bemüht sich, ihm in ihrer Firma zu einer Stelle zu verhelfen. „Vor einigen Tagen erfahre ich, dass du im Krankenhaus bist. Doppelter Herzinfarkt, Kreislaufstillstand. Auf der Intensivstation ist kein Bett frei. Mit viel Mühe finden wir einen Platz für dich. Einige Tage lang bist du im Koma. Heute bist du gestorben. Nun kannst du endlich ruhen.“
Griechen in Bayern
Entscheidender Grund für den auf den Menschen lastenden Druck ist die in Griechenland fehlende Grundsicherung. Wenn das Arbeitslosengeld nach zwölf Monaten ausläuft, stehen die Betroffenen vor dem Nichts. Es gibt keine Hilfe zum Lebensunterhalt, die Sozialversicherung ist vom Arbeitsplatz abhängig. Manchen fehlt buchstäblich das Geld für die einfachsten Lebensmittel oder sie leben ohne Strom und fließend Wasser. Die Autorin: „Menschen, die keinen Arbeitsplatz mehr ablehnen können, sind leichte Opfer, überall auf der Welt.“
Auch in Griechenland besser Gestellte entscheiden sich mitunter das Land zu verlassen: Tzoulia Baxevanidou ging es mit ihrer Familie noch relativ gut, obwohl, bei sinkendem Einkommen, ihr Arbeitspensum während der Krise deutlich stieg – zuletzt waren es rund 18 Stunden am Tag. Sie hat ein zweites Leben in Deutschland begonnen. Tzoulia, mit ihrer Qualifikation international gefragt, ist seit 2014 SAP-Entwicklungsmanagerin in München. Für die Landeshauptstadt sprach die hiesige griechische Gemeinde. Mit dem deutschen Gehalt können auch die Eltern in Griechenland wieder unterstützt werden, die Rente des Schwiegervaters wurde von 750 auf 550 Euro gekürzt und eine 13. Monatszahlung entfällt für ihn komplett. Grundsätzlich fällt die Entscheidung zu gehen sehr schwer, selbst wenn man wie Tzoulia und ihre Familie „unter den allerbesten Bedingungen gegangen“ ist: In München wurden sie mit offenen Armen empfangen. Trotz der erst kurzen Zeit in Deutschland hat sich die Familie an die neuen Lebensumstände gewöhnt. Eine Hürde sind noch die fehlenden Sprachkenntnisse. In ihrer neuen Firma arbeitet sie bereits so erfolgreich, dass sie zur „Mitarbeiterin des Quartals“ gewählt wurde. Die Familie möchte mittlerweile in München bleiben.
Die in Nürnberg lebende Aliki Alesik, die mit 19 ihrer 1961 nach Deutschland eingewanderten Mutter folgte, vergleicht die Situation für die Griechen damals und heute. Die Menschen könnten nichts für die jetzigen Zustände im Land. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 60 Prozent, der Verlust eines Drittels des Einkommens ist eine gängige Erfahrung. Aliki Alesik beschloss zu helfen und das Kommen von jungen Griechinnen nach Nürnberg zu ermöglichen. Eine von ihnen ist die 25-jährige Panagiota Gkakiou, die als Krankenschwester in Nürnberg arbeitet und ihre Zukunft inzwischen in Deutschland sieht. Wie viele andere Griechen auch, spürt sie eine ins Negative umgeschlagene Haltung gegenüber ihren Landsleuten, seit Syriza in die Regierung gewählt wurde. Kostas Giannakakos, der Leiter des Griechischen Hauses in München, bezeichnet die Griechenlandberichterstattung weiter Teile der deutschen Presse als desinformierend.
Ein Augenöffner kann da der Film „Agorá“ sein, der auf dem Münchner Dokumentarfilmfest gezeigt wurde. Der Regisseur Jiórgos Avgeropoulos verfolgt das Land über vier Jahre während der Krise. Das Publikum ist betroffen. Viele wussten noch nichts von der hohen Selbstmordrate und der Obdachlosigkeit. Neu war auch, „es mal von den unmittelbar betroffenen Menschen her“ zu sehen.
Die Autorin Alkyone Karamanolis, geboren in München, ist auf Griechenland spezialisierte Journalistin, unter anderem für den Bayerischen Rundfunk.