Etwa 10 Millionen Menschen sollen in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben an einer Depression erkranken, die, so die Autoren dieses Features, „von vielen als anhaltende bodenlose Traurigkeit, als Verzweiflung, als nicht zu überwindende Erschöpfung beschrieben wird“. Im schlimmsten Fall werden Depressive völlig inaktiv. Immer mehr Menschen, sogar Kinder, seien betroffen, laut Schätzung der Welt-Gesundheitsorganisation WHO weltweit jeder Zehnte. In Deutschland sind Depressionen inzwischen Hauptgrund für Frühverrentungen. Auf einen Therapieplatz muss man hierzulande im Schnitt sechs Monate warten. Hausärzte, zu denen die meisten dann erst einmal gehen, verschreiben gern ein Medikament. „Zwischen 2000 und 2013 hat sich in Deutschland die verschriebene Tagesmenge an Antidepressiva verdreifacht“ (Friedrichs/Padberg). Verschrieben wird laut Internet-Portal „Depression-Heute“ sogar bei Rückenschmerzen.
Falsche Ursachenergründung?
Das gängige Erklärungsmuster für Depressionen ist nach wie vor, dass die Krankheit auf einen „gestörten Hirnstoffwechsel“ (Deutsche Depressionsliga) bzw. den fehlenden Botenstoff Serotonin zurückzuführen sei. Antidepressiva sorgten dann für eine Regulierung. Allerdings ist diese Erklärung vermutlich falsch.
Der US-amerikanische Psychologe Irving Kirsch wertete mehr als zehn Jahre lang Studien der Pharmafirmen aus – nicht nur die bewusst veröffentlichten, sondern auch geheim gehaltene, deren Einblick er nach dem US-Akteneinsichtsrecht (Freedom of Information Act) verlangte. Ergebnis war, dass die Medikamente gegen Depression meist nicht besser wirkten als ein Placebo, ein Scheinmedikament. Die Sendungsautoren: „Nur bei der Gruppe der sehr schwer Erkrankten übertraf die Wirkung der Medikamente die der Placebos.“ Die Wirksamkeit von Antidepressiva sei also nicht auf die in ihnen enthaltenen Wirkstoffe zurückzuführen, sondern auf den berühmten Placebo-Effekt.
Forscher, die Kirsch widerlegen wollten, scheiterten. Andere Fachleute bestätigen ihn, so Anfang dieses Jahres Forscher aus Göteborg. Oder der Psychiater Tim Kendall, Direktor des britischen „Centre for Mental Health“: „Es gibt wirklich keine belastbaren Untersuchungen dazu, dass Depressive ein Serotonindefizit hätten“, wird er in der Sendung zitiert. Auch der Arzt Peter Ansari und seine Frau Sabine legen in einem aktuellen Buch über die „Antidepressiva-Lüge“ dar, dass Beweise für die Serotonin-Theorie fehlten. [Das Ehepaar betreibt auch die bereits genannte Internet-Seite „Depression-Heute“ .]
Und Tom Bschor, Chefarzt der Psychiatrie in der Schlossparkklinik Berlin-Charlottenburg, in der Sendung: „Wir wissen aus Analysen, dass der Großteil der Wirkung, die wir sehen, wenn wir einem Patienten ein Antidepressivum geben, auf einen Placebo-Effekt zurückgeht.“ Es stimme mit Sicherheit nicht, „dass Depression eine Verschiebung von Neurotransmittern sei, die man durch Antidepressiva ausgleichen könne“. Die Erklärungsmuster vom gestörten Hirnstoffwechsel und dem fehlenden Serotonin seien „das Ergebnis von Marketing. Das ist eine Kampagne aus den 90er Jahren der pharmazeutischen Industrie, die genau dieses simplifizierende, unzutreffende Modell primär auch unter die Ärzte gebracht hat.“
Trotz dieser Erkenntnisse verordnet Bschor in seiner Klinik auch Antidepressiva, die er bei Schwerkranken für hilfreich hält. Auch wenn er weiß, dass ein Großteil der Wirkung auf einem Placebo-Effekt beruhe und er dies mit schamanischen Ritualen vergleicht.
Nebenwirkungen
Der Student Tobias Schuster, der für diese Sendung befragt wird, ging zwanzigjährig mit großen psychischen Problemen zum Psychiater, der nur fünf Minuten mit ihm redete und ein Rezept für ein Medikament ausstellte. „Er hat mich mit den Medikamenten sehr alleine gelassen.“ Tobias begann mit der empfohlenen Dosis von 50 mg am Tag und steigerte auf eigene Faust schnell auf die Maximaldosis von 220 mg. „Ich habe schon das Gefühl, dass mir das geholfen hat.“ Die Wirkung der Tabletten bestand bei ihm zunächst aber in deren Nebenwirkungen, in „sexuellen Funktionsstörungen“, wie es in der Packungsbeilage heißt. Und dies war für ihn ein Signal, so die Feature-Autoren, „dass das Medikament auch in seinem Kopf etwas bewirkt. Ob der Effekt nun Placebo ist oder nicht, ist ihm eigentlich egal.“
Auch wegen der Gefahr von Entzugserscheinungen beim Absetzen der Medikamente hat sich Tim Kendall in Großbritannien dafür eingesetzt, dass „Antidepressiva bei leichten und mittelschweren Depressionen nur noch in Ausnahmefällen empfohlen werden“, Kindern und Jugendlichen gar nicht mehr verordnet werden sollen. Eine Therapie, Lebenshilfe oder Sport erweise sich bei leichten Fällen als ebenso wirksam wie ein Medikament. Ein Fazit der Autoren: „Bei einer Krankheit, die so stark durch Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet ist, hilft alles, was Hoffnung gibt.“
(Zitate in diesem Text nach dem Sendungsmanuskript.)