DRadio Kultur, 19. August 2015

Vor 50 Jahren: Braunbuch entlarvt Nazigrößen

Zum Jahrestag ein leicht verspätetes Radiofeature

Vor 50 Jahren wurde in der DDR das „Braunbuch“ über die Nazi-Vergangenheit von bundesrepublikanischen Funktionären, zum Teil hochrangigen Persönlichkeiten in verschiedensten Bereichen vorgestellt. Deutschlandradio Kultur widmete ihm ein halbstündiges Feature.

Es war SED-Politbüromitglied Albert Norden, der das „Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik – in Staat, Wirtschaft, Verwaltung, Armee, Justiz, Wissenschaft“ am 2. Juli 1965 auf einer Pressekonferenz vorstellte. Es enthielt etwa 1800 alphabetisch sortierte Namen mit einer Kurzbeschreibung.

Beispiele

Wie zum Beispiel:
- Rudolf Bilfinger, SS-Obersturmbannführer, in der Bundesrepublik Oberverwaltungsgerichtsrat.
- Josef Schafheutle, Regierungsrat im NS-Justizministerium, der unter anderem am Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe von 1933 mitwirkte. Nach 1945 wurde er Ministerialdirektor im Bundesjustizministerium.
- Max Frauendorfer war als Angehöriger des Stabes Reichsführer SS hauptverantwortlich für die Deportation hunderttausender Polen. Nach 1945 war er Direktor der Allianz Lebensversicherungs-AG und stellvertretender Schatzmeister der CSU.
- Fritz Gajewski, als Wehrwirtschaftsführer unter anderem mitverantwortlich für den Einsatz von KZ-Häftlingen als Sklavenarbeiter. Nach 1945 Angeklagter im Nürnberger IG-Farben-Prozess, Ehrenvorsitzender des Aufsichtsrates Dynamit Nobel AG, ausgezeichnet mit dem Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik.
- Hans Gramm, Ministerialrat im Nazi-Justizministerium und förderndes Mitglied der SS, wurde Senatspräsident beim Oberlandesgericht Hamburg und 1. Vorsitzender des Hamburgischen Richtervereins.

Der gesellschaftliche Kontext Mitte der sechziger Jahre

Peter Steinbach, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, ist einer der Experten, die in diesem Feature zu Wort kommen: Der Eichmannprozess in Israel, später der Frankfurter Auschwitz-Prozess hatten die Gesellschaft der Bundesrepublik aus ihrer gewollten Nachkriegsruhe und Schlussstrichmentalität aufgerüttelt. Der Auschwitz-Prozess, so Steinbach, mündete in die erste deutsche Verjährungsdebatte. Das Braunbuch habe klargemacht: „… die Juristen, die mit rechtsstaatlichen Argumenten versuchen, die Aufhebung der Verjährung zu verhindern, die haben Interessen, die sind belastet.“ Sie hatten eventuell auch schon dem NS-Staat gedient. Peter Steinbach sagt, dass er schon damals als Schüler das Braunbuch las. „Man konnte wirklich Hunderte von Juristen dort finden in den Funktionen, die sie früher hatten.“ Im Braunbuch „wurden Menschen benannt, die dieses System nachweislich, minus ein Prozent, mitgetragen haben. Und das tat dieser Gesellschaft gut, weil sie endlich über ihre Vorgeschichte diskutierte.“ Und, so Steinbach, die Rechercheleistung des Braunbuchs, die nicht fundamental in Frage gestellt wurde, wäre eigentlich eine Arbeit für die westdeutsche Justiz gewesen. Sie beruhte, ergänzt der Potsdamer Historiker Jens Gieseke, auf internationaler Kooperation, hauptsächlich mit den Ostblockstaaten, in erster Linie Polen und der Sowjetunion.

Dass Nazigrößen wieder in öffentliche Ämter der Bundesrepublik strebten, sollte in der Adenauer-Ära nicht thematisiert werden. Mit dem Fall Eichmann, so Steinbach, änderte sich das. 1965 sollten NS-Verbrechen verjähren. Die DDR erließ 1964 ein Gesetz über die Nichtverjährbarkeit von Nazi- und Kriegsverbrechen. Und setzte damit die Bundesrepublik unter Druck, was auch aus den Worten Albert Nordens in der Pressekonferenz zum Braunbuch deutlich wird: Deutschland brauche heute, so Norden, „eine Politik der Verständigung, die auch in Westdeutschland dem Fortschritt, der Mitbestimmung, der Demokratie, der Sauberkeit Raum gibt. Ja, der Sauberkeit, denn die politische Sauberkeit heute setzt die Bewältigung der schmutzbeladenen Vergangenheit von gestern voraus. Das hat die DDR getan. Das bleibt in Westdeutschland zu tun.“

Beispiel Heinrich Lübke

Prominentester Fall des Braunbuchs war Bundespräsident Heinrich Lübke. Er hatte in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde als Bauleiter gearbeitet und leitete dort auch den Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen. Waren Unterlagen über Lübke gefälscht, wie schon damals vom Bundespräsidialamt behauptet? Nicht die Dokumente, sagt Jens Gieseke. Eine mit dem Braunbuch eingeleitete Kampagne gegen Lübke bewog diesen zur vorzeitigen Beendigung seiner Amtszeit.

Hochrangige NS-Täter und Schreibtischtäter waren generell lieber in den Westen gegangen. Sie konnten in ihren Berufsfeldern wie Polizei oder Justiz weitermachen. Täter mit Arbeiterhintergrund, die etwa in Einsatzgruppen der SS tätig waren, lebten aber durchaus auch in der DDR, wie Gieseke erläutert.

Dass die dritte, nach der zweiten wiederum erweiterte Auflage des Braunbuchs 1968 die letzte war, hängt, so erneut Gieseke, mit der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler im darauffolgenden Jahr zusammen. Der Gewählte war Sozialdemokrat, NS-Verfolgter und Exilant. Das Feindbild funktionierte nicht mehr hundertprozentig.

Das Braunbuch

Albert Norden und die Kampagne zur Entlarvung von Kriegsverbrechern in Westdeutschland

Von Thomas Klug

DRadio Kultur, Reihe: Zeitfragen. Feature
19. August 2015, 19.30 Uhr, 30 min.