rbb kulturradio, 11. Dezember 2015

Noch heute finde ich keine Antwort

Hörspiel als zeitgeschichtliche Dokumentation: „Das Verschwinden des Philip S.“

Es beginnt mit dem Ende. Aus O-Ton-Dokumenten aus den frühen 1970er Jahren erfährt man zunächst, dass neben anderen Werner Sauber als „anarchistischer Straftäter“, Angehöriger der „Bewegung 2. Juni“, gesucht wird. Werner Sauber ist der Mann, von dem in diesem Hörspiel nach Ulrike Edschmids Buch erzählt wird. Den Vornamen Philip legte er sich selbst zu.

Schießerei bei Polizeikontrolle

In der Nacht zum 9. Mai 1975, so berichtet es im Hörspiel ein unabhängig von der Erzählerin auftretender „Reporter“, beobachten Einwohner in Köln-Gremberg drei ihnen verdächtig erscheinende Männer auf einem Parkplatz. Da die Absicht eines Autodiebstahls denkbar wäre, wird die Polizei gerufen, die mit vier Einsatzfahrzeugen anrückt und die drei Personen, die gerade losfahren wollen, kontrolliert. Im Lauf der Kontrolle kommt es zu einem heftigen Schusswechsel, der auf beiden Seiten einen Toten und einen Schwerverletzten fordert. Der Schwerverletzte unter den Kontrollierten ist der am Steuer sitzende Wageninhaber, der damals 33-jährige Arzt und Historiker Karl Heinz Roth. Der Getötete – ist Werner Sauber, der auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt. 
Ulrike Edschmid, die in Berlin mehrere Jahre mit Philip (Werner) S(auber) gelebt hatte, will es – wie wir im Hörspiel durch die Stimme der Erzählerin erfahren –, als sie die Nachricht über eine nächtliche Schießerei in Köln vernimmt, sofort gewusst haben.

Was war am 9. Mai 1975 geschehen? Nur Karl Heinz Roth, der als einziger seine echten Personalpapiere vorzeigte, galt als verdächtig, der Terroristenszene anzugehören. Die beiden anderen, neben Werner Sauber noch der bei der Schießerei unverletzt gebliebene Roland Otto, wurden tatsächlich gesucht. Da sie aber bei der Kontrolle falsche Papiere vorlegten, fiel auf sie kein Verdacht. Die Polizisten fordern mit gezogener Waffe die Kontrollierten auf, aus dem Wagen auszusteigen. Sauber, der neben dem Fahrer gesessen hatte, steigt aus, ergreift die Flucht. Die Polizisten beginnen ohne Vorwarnung zu schießen. S. wird getroffen, schießt zurück, dabei wird ein Polizist tödlich verletzt. S. stürzt, ein anderer Polizist erreicht ihn und schießt auf den Liegenden. Dass es so war, darüber verrät sich, so das Hörspiel, der Schütze später im Prozess: „Als das Erschießen los ging“.

Kennenlernen in West-Berlin

Ulrike Edschmid lernt den aus wohlhabenden Verhältnissen stammenden Schweizer Philip Werner Sauber 1967 in West-Berlin kennen. Damals, sie wohnt in Kreuzberg, hat sie einen kleinen Sohn von einem Mann, der sie verlassen hat. Im Spätsommer hört sie auf, auf die Rückkehr des Vaters ihres Kindes zu warten, der nicht mehr ihr Ehemann ist. Dieser gehörte zu den ersten Studenten an der neu gegründeten Filmakademie Berlin (DFFB), wo sie immer noch gelegentlich hingeht. Dort lernt sie auch den ebenfalls an der DFFB studierenden Philip S. kennen. Er hilft ihr beim Umzug und zieht in die frisch bezogene Wohnung in Charlottenburg ein: Er bleibt, „um, wie er mich spüren ließ, nie mehr wegzugehen. […] Mit 20, Student an der Filmakademie, versucht er für ein Kind da zu sein, das nicht das seine ist“ (Erzählerin im Hörspiel). Im Winter 1967/68 dreht er den Schwarzweiß-Film „Der einsame Wanderer“. Es ist – untypisch für die Zeit – kein politischer Film.

Radikalisierung

In Berlin wuchs die Empörung der Studenten gegen den Krieg der USA in Vietnam. Philip geht nach der Filmarbeit jetzt auch zu politischen Versammlungen. Nach dem Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke am 11. April 1968 wird am Springer-Hochhaus demonstriert, weil den Springer-Blättern eine Mitschuld an der Tat zugesprochen wird. Noch halten Ulrike und Philip wegen der Militanz der Protestierenden Abstand. „Philip S. und ich gehören zu keiner Gruppe.“ Bei der Besetzung der DFFB im Mai 1968 ist Philip dabei. Den Besetzern wird unter Androhung des Verweises von der Akademie Hausverbot erteilt. Philip zeigt seinen Film beim Pesaro-Festival und in Rom – mit Erfolg. Im Sommer 1968 reisen Philip und Ulrike mit dem Kind nach Italien. 
Zurück in Berlin hat sich das politische Klima noch einmal radikalisiert. Ulrike Edschmid gehört zu den Gründern des ersten Kinderladens, Philip macht dort Filmaufnahmen mit ausgeliehenen Kameras. Er ist auch bei der Straßenschlacht zwischen Demonstranten und der Polizei am Tegeler Weg am 4. November 1968 dabei. Gemeinsam mit 17 weiteren Studenten, darunter Holger Meins, wird Philip von der DFFB verwiesen. Im Winter 1969 wird er Taxifahrer, da das Geld von den Eltern in Zukunft ausbleiben wird. Was er verdient, reicht der kleinen Familie zum Leben. Er nimmt Kontakt zu Gruppen in Arbeitervierteln und Betrieben auf. Mehr und mehr unternimmt er radikale politische Aktionen, bei denen Ulrike zum Teil dabei ist. Ihr ist allerdings, dies wird im Verlauf des Hörspiels immer wieder bekräftigt, wegen ihres Kindes bange, das ihr gemeinsam mit Philip am wichtigsten ist.

Die kleine Familie zieht 1969 in eine Fabriketage in der Schöneberger Grunewaldstraße, gedacht als alternatives Projekt. Einer ihrer Mitbewohner wird Holger Meins. Die Akademie weigert sich trotz richterlichen Beschlusses, die relegierten Studenten wieder aufzunehmen. Dagegen gewinnen diese einen Musterprozess und werden finanziell entschädigt. Von dem erhaltenen Geld kauft Philip eine der ersten Videokameras. Geplant war, sie zur Produktion einer Gegen-Abendschau als Teil der Gegenöffentlichkeit zu benutzen.
Als Folge der nicht nachlassenden studentischen Proteste ist immer häufiger die Polizei in der Grunewaldstraße. Nach der Befreiung des damals kurzzeitig inhaftierten Andreas Baader im Mai 1970, an der Ulrike Meinhof beteiligt war, wird unter anderem nach diesen beiden fieberhaft gesucht.
Am Morgen des 21.8.1970 werden Ulrike Edschmid, Philip S. und die Leute aus der Wohnung in der Grunewaldstraße verhaftet. Ulrikes Sohn war zu dieser Zeit mit anderen in die Ferien gefahren. In der Haft sieht sich das Paar nicht, Philip kommt wegen Hungerstreiks und „Gefangenenaufwiegelung“ in den Arrest. „Ich gehe nach innen … Meine Gedanken reichen nur bis zu meinem kleinen Sohn.“ Als dieser zurückkommt, ist Ulrike noch in Haft, das Kind muss sie im Gefängnis besuchen. Reporter-Stimme: „Ulrike Edschmid, Holger Meins und Philip Werner Sauber werden wegen Mangels an Beweisen freigelassen“.

Untertauchen

Ulrike kann Philip in seiner Radikalisierung nicht mehr folgen. Er gilt weiter als begabter Filmemacher, gibt Video-Kurse an der Filmakademie. „Die Wochen hinter Gitter haben ihn woanders hingeführt.“ „Sand im Getriebe der Maschinerie“ zu sein, das treibt Philip nun an. Er fährt wieder Taxi, trifft sich, so das Hörspiel, mit dem Paar, nach dem im ganzen Land gefahndet wird. Je riskanter Philips Aktionen, umso enger will er Ulrike an seiner Seite sehen. „Unsere Liebe wird zum Geheimbund.“ Die beiden sehen sich weiterhin, haben aber unterschiedliche Vorstellungen von einem gemeinsamen Leben und den Aktionen. Ihr ist eine Rolle als Botin zugedacht, für die sie sich verkleiden muss.
„Er geht an einem bestimmten Tag [1971]. … Ich habe ihn nicht zurückgehalten.“ Vor seinem gewaltsamen Tod wird Philip Werner Sauber per Haftbefehl gesucht. Autodiebstahl, Banküberfälle und eben die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung werden ihm angelastet. Auch Ulrike Edschmid soll zu einer „Bande“ gehören. Mit ihrem Kind zieht sie nach Frankfurt. Die Polizei vernimmt sie, Ulrike sagt aber wenig. Die Vertreter der Staatsgewalt fragen, ob Philip bei einer Verhaftung schießen würde. 
Im Spätsommer 1974 sieht sie ein Fahndungsplakat mit seinem Foto in Frankfurt. „Im Februar 1975 taucht er auf. Plötzlich und unvermittelt.“ Aus Köln kommend, wo er wohnt und in einer Fabrik arbeitet. Sie könne ihn nicht fragen, hören wir im Hörspiel, was sie ihn damals nicht gefragt hatte. „Das Warum [seines Verschwindens] kommt nicht über meine Lippen. Noch heute finde ich keine Antwort.“

Die „Hinrichtung Werner Saubers“

Die Schießerei auf dem Parkplatz von Köln-Gremberg hatte für die Überlebenden, den schwerverletzten Karl Heinz Roth und den unverletzt gebliebenen Roland Otto, eine Anklage wegen Mordes und Mordversuchs zur Folge. Die Verhandlung fand erst 1977 statt. Karl Heinz Roth, so ist aus einem Tondokument im Hörspiel zu erfahren, glaubte der einzige Überlebende des „Massakers“ zu sein. Dies habe ihm Kraft gegeben zu überleben. Er wollte, so sagt er, Zeugnis über die Wahrheit ablegen. „Ich durfte nicht sterben, denn tote Angeklagte können sich nicht mehr verteidigen.“ Einer von Roths Anwälten war der prominente Strafverteidiger Heinrich Hannover, der dieser Verhandlung ein Kapitel seines zweiteiligen Buchs „Die Republik vor Gericht 1954 – 1995“ widmet. Ein Streitpunkt des Prozesses war die Frage, wer am 9. Mai 1975 zu schießen begonnen hatte, die Polizei oder Werner Sauber. Die Angeklagten widersprachen der Polizeiversion, derzufolge die kontrollierten Wageninsassen das Feuer eröffnet hätten. Der Anwalt, ein Originalton im Hörspiel: „Die Polizei hat nach meiner Überzeugung auch zu verbergen, wie Werner Sauber zu Tode gekommen ist.“ Verbürgt ist der Kommentar eines Polizeibeamten: „Die Kollegen haben schlecht geschossen, sie hätten alle drei kaputt sein müssen.“ Heinrich Hannover erklärt auch (O-Ton), er habe Werner Sauber mitverteidigt, der sich nicht mehr verteidigen konnte, und spricht von der „Hinrichtung Werner Saubers durch den Polizeibeamten H.“

Die im Verlauf des Hörspiels eingestreuten Originaltöne – Medienberichte aus den 1960er und -70er Jahren, Äußerungen von Prozessbeteiligten sowie von Filmleuten aus dem DFFB-Umfeld, die sich persönlich an den Filmemacher Philip Werner Sauber erinnern –, dazu die Passagen des von Matthias Ponnier gesprochenen „Reporters“ machen diese Literaturbearbeitung zur zeitgeschichtlichen Dokumentation. Kein Wunder, dass mit Nikolai von Koslowski ein featureerfahrener Regisseur die Inszenierung besorgt hat. Die stellenweise schneidenden E-Gitarren der Musik Haarmanns, schließlich der eindringliche Gesang Marina Frenks sind Zutaten, die in einer packenden Produktion resultieren.

Die 2013 erschienene Buchvorlage von Ulrike Edschmid rief ein lebhaftes Medienecho hervor und wurde mehrfach ausgezeichnet.

Das Verschwinden des Philip S.

Hörspiel nach dem gleichnamigen Roman von Ulrike Edschmid

Bearbeitung: Ricarda Bethke
Mit Inka Friedrich (Sie), Matthias Ponnier (Reporter); Marina Frenk, Tino Mewes, Martin Engler, N. N. (Stimme des Kindes)
Gesang: Marina Frenk
O-Töne von Manfred Kittlaus, Karl Heinz Roth, Heinrich Hannover, Heinz Rathsack, Erwin Leiser, Harun Farocki, Bernd Fiedler, N. N.
Musik: Haarmann
Regie: Nikolai von Koslowski
rbb 2015

rbb kulturradio
11. Dezember 2015, 22.04 Uhr, 56 min.