WDR 3, 14. Juli 2016

Levi, Ginzburg, Pavese und andere

Hörspiel-Premiere zum 100. Geburtstag von Natalia Ginzburg

Das Jahr 2016 böte sich auf doppelte Weise als Jubiläumsjahr der Schriftstellerin Natalia Ginzburg an: Am 14. Juli vor 100 Jahren wurde sie geboren, und im Oktober könnte ihr 25. Todestag begangen werden. Der Schriftsteller Jochen Schimmang, der auch ein gutes Dutzend Hörspiele verfasst hat, führt in einer knappen Stunde durch das Leben der Ginzburg. Seine Natalia – der Nicole Heesters die Stimme leiht – lässt er im Monolog erzählen, ergänzt durch kurze Dialoge bzw. Stimmen aus Natalias Familie und aus ihrem Umfeld.

Natalia Ginzburgs Heimatstadt war Turin, in die die Familie kam, als die spätere Schriftstellerin, die in Palermo geboren wurde, noch ganz klein war. Ihr Vater, der Histologe Giuseppe Levi, übernahm eine Professur an der Universität Turin. Er war zu seiner Zeit ein berühmter Wissenschaftler. Natalia und ihre vier Geschwister, die alle deutlich älter waren als sie – zwischen sieben und fünfzehn Jahren –, wurden während der Grundschulzeit zu Hause unterrichtet: zuerst durch ihre Mutter, dann durch eine Hauslehrerin. „Ich dachte, in die Schule dürfen nur die Armen gehen“, hören wir von der Hörspiel-Natalia. Und noch etwas macht sie anders: Ihre Mutter ist Katholikin, ihr Vater Jude. Daher ging die Familie weder in die Kirche noch in die Synagoge. Sie seien „weder das eine noch das andere […,] eigentlich gar nichts“, erklärt es Natalia im Hörspiel ihr nächstälterer Bruder Alberto.
Als der Faschismus in Italien an die Macht kam, rechnete sich Natalias Familie zu den Systemgegnern. Von den Levis hat niemand die schwarze Uniform getragen, die Natalia, wie sie zugibt, aber gern gehabt hätte. 

Wie es mit dem Schreiben begann

Zu Hause sollte sie – das Nesthäkchen wurde eben nicht ernst genommen – immer den Mund halten. „Ich nehme an, ich hab deshalb angefangen zu schreiben. […] Wer zu Hause nicht zu Wort kommt, wird vielleicht später Schriftsteller. […] Als ich zehn war, wusste ich haargenau, dass Schreiben mein Beruf war.“ Schon als Kind schrieb Natalia erste Romane. 

Leone Ginzburg

Den in Odessa geborenen Leone Ginzburg lernte Natalia über ihren elf Jahre älteren Bruder Mario kennen. Leone gehörte einem Kreis um den späteren Verleger Giulio Einaudi, den angehenden Schriftsteller Cesare Pavese und den späteren Philosophen Norberto Bobbio an, die alle das gleiche Turiner Gymnasium besuchten – wie auch Natalias Brüder. Leone, der aus dem Russischen übersetzte, war öfter bei den Levis zu Besuch. Er schickte Erzählungen von Natalia an die Zeitschrift „Solaria“. Die zweite, „I Bambini“, wurde veröffentlicht. Leone und Natalia trafen sich nun öfter.
Eines Tages wurde Mario verhaftet, weil antifaschistische Schriften bei ihm gefunden wurden. Er rettete sich in die Schweiz, daraufhin aber kam die Polizei ins Haus der Levis. Der Vater und der älteste Sohn Gino wurden verhört und kamen kurz ins Gefängnis. Leone wurde [1934] zu vier Jahren Haft verurteilt, von denen er nur die Hälfte absitzen musste.
Leone und Natalia heirateten 1938. „Warum ich Leone geheiratet habe? Er war einfach der Richtige. […] Man merkt doch, wenn man die richtige Person getroffen hat.“

Verbannung

1940, im Jahr des Kriegseintritts Italiens, wurde Leone in das Dorf Pizzoli in den Abruzzen verbannt. Seiner Arbeit für den jungen Verlag Einaudi ging er weiter nach. Natalia folgte mit den beiden kleinen Söhnen. „Ich glaube, die Leute im Dorf wussten gar nicht, dass wir Politische waren.“ Sie hätten geglaubt, der Grund für die Verbannung der beiden Fremden sei ihr Judentum. Im Dorf wurden sie sehr gut aufgenommen.
Natalia schrieb in der Verbannung ihren „ersten ernstzunehmenden Roman“, den sie „Die Straße in die Stadt“ nannte. Anregung für die eigentlich „lange Erzählung“ war das Dorf Pizzoli, der indirekt erste Anstoß stammte aber von Cesare Pavese: „Liebe Natalia, hören Sie auf Kinder zu kriegen, und schreiben Sie ein schöneres Buch als meines“, hatte er ihr per Postkarte geschrieben. Er hatte gerade „Unter Bauern“ veröffentlicht. „Die Straße in die Stadt“ erschien 1942 bei Einaudi unter dem Pseudonym Alessandra Tornimparte.

Schreiben wie ein Mann

Natalias Ziel war, zu schreiben wie ein Mann. „Den meisten Schriftstellerinnen gelingt es nicht, sich beim Schreiben von ihren Gefühlen zu lösen.“ Die Selbstironie fehle. Frauen seien „feucht von Gefühlen.“ Natalias eigene Romanfiguren seien immer zugleich etwas komisch und bedauernswert.

Die Verbannungszeit ging 1943 zuende. Es sei die beste Zeit in ihrem Leben gewesen, so die Hörspiel-Natalia. Das erkannte sie aber erst später, „als sie für immer entschwunden war“. 
Mussolini wurde gestürzt. Leone verließ Pizzoli, ging nach Rom, um sich der politischen Arbeit zu widmen und übernahm gleichzeitig die neue hauptstädtische Niederlassung von Einaudi. Natalia blieb im Dorf, im März war noch eine Tochter geboren worden. Die Deutschen kamen „nach dem kurzen Jubel des Waffenstillstands“ und befreiten Mussolini [12.9.1943]. Leone fordert in einem Brief Natalia auf, das Dorf sofort zu verlassen. Auf abenteuerliche Weise gelangte sie nach Rom.

Leones Tod

Eines Abends kam Leone nicht mehr nach Hause. Von ihrem Schwager Adriano Olivetti erfährt Natalia, ihr Mann sei verhaftet worden, sie müsse sich verstecken. Noch wussten die Deutschen nicht Leones richtigen Namen. Als dieser herauskam, wurde Leone in den deutschen Trakt des Gefängnisses verlegt und gefoltert. Er wurde im Februar 1944 tot in seiner Zelle gefunden. Um ihn nocheinmal zu sehen, ging Natalia heimlich ins Gefängnis. 

Nach dem Krieg

Nach der Befreiung Roms im Juni fing sie an, für Einaudi zu arbeiten, und als der Krieg zu Ende war, zog sie wieder nach Turin. Der Verlag war inzwischen gewachsen, Pavese war sein Direktor und dazu ein berühmter Schriftsteller. Völlig unerwartet brachte er sich 1950 mit Tabletten um. „Wir waren völlig verstört. […] Er schrieb großartige Bücher, aber er lernte nichts aus ihnen […] Er blieb immer allein. Seine Familie waren die Leute aus dem Verlag.“
Eigene politische Arbeit fand Natalia enttäuschend. „Vor den Wahlen von 1948 habe ich ein paar Wahlreden für die kommunistische Partei gehalten. […] Das war nicht meine Stärke.“ Lieber schrieb sie den Roman „Alle unsere Gestern“, der 1952 erschien. Hintergrund ist die faschistische Zeit und der Widerstand. Es wurde ein Buch mit nur indirekter Rede.
Inzwischen hat Natalia ein zweites Mal geheiratet: Ihr Ehemann wurde der drei Jahre jüngere Literaturwissenschaftler Gabriele Baldini (der schon 1969, kurz vor seinem 50. Geburtstag, plötzlich starb). Anfangs lebten sie getrennt, sie in Turin, er in Rom, wo er Anglistik lehrte. Dann zog auch Natalia nach Rom. Mit Gabriele hatte sie zwei Kinder, die leider nicht gesund geboren wurden, das jüngere, ein Sohn, lebte nur 14 Monate.

Das Kino als Einfluss auf Natalias Schreiben

Eine gemeinsame Leidenschaft der Eheleute war das Kino. Es habe großen Einfluss auf ihr Schreiben gehabt, darauf, wie man etwas erzählt, so die Hörspiel-Natalia. In London sah sie zum ersten Mal Filme von Ingmar Bergman. „Ich glaube, Bergman hat dasselbe gemacht, wie ich beim Schreiben. Er hat gezeigt, wie Menschen mit Schmerz und Glück umgehen. Mit Elend, Angst und Tod. […] Ich habe in meinen Büchern nichts anderes gemacht.“
Für das „Familienlexikon“, ein Buch, das ihre große Familie über den Zeitraum ihres bisherigen Lebens porträtiert, bekam Natalia 1963 den Premio Strega.

Das Hörspiel streift noch die 1968er- und Natalias Jahre als Parlamentsabgeordnete. In der Zeit des Protests bemerkte sie zu ihrem Sohn Carlo (später ein angesehener Historiker), die Rebellen seien alle Kinder reicher Eltern. War sie für diese Jugendbewegung schon zu alt? 
1983 wurde sie erstmals als unabhängige Kandidatin auf der Liste der Kommunisten in das italienische Parlament gewählt. „Die Abgeordnete Ginzburg. Es ist schon merkwürdig.“ Denn ihr Beruf blieb das Schreiben.

Natalia Ginzburgs im Hörspiel erwähntes Erfolgsbuch „Familienlexikon“ dürfte eine nicht unwesentliche Quelle für dieses Radiostück gewesen sein. Das Hörspiel konzentriert sich auf das Leben der Schriftstellerin bis zum Ausgang des Zweiten Weltkriegs und streift ihre Jahre nach dem Erscheinen des „Familienlexikons“ nur noch kurz.

„Die erleuchtete Stadt gehört den anderen“ – das den Hörspiel-Titel enthaltende Zitat ist an der Stelle der Befreiung Roms eingeflochten – ist eine charmante, ruhige Produktion, die ihre Unaufgeregtheit auch beim Erzählen der dramatischsten Jahre von Natalia Ginzburgs Leben beibehält. Dazu trägt auch die leise, nostalgische Musik bei, die dem Text unterlegt ist. Sowohl als Einführung in das Leben und Werk der Schriftstellerin als auch für Ginzburg-Fans eine Bereicherung.

(Die Zitate in diesem Text sind sämtlich dem Hörspiel entnommen.)

Die erleuchtete Stadt gehört den anderen

Hörspiel von Jochen Schimmang

Natalia Ginzburg: Nicole Heesters; Mutter Lidia Levi: Caro Scrimali; Vater Giuseppe Levi: Simon Roden; Leone Ginzburg: Denis Moschitto; Levi-Brüder: Jonas Minthe; Zitatorin: Susanne Reuter
Regie: Annette Kurth
WDR 2016

WDR 3
14. Juli 2016, 19.05 Uhr, 55 min.