SWR2, 8. Juni 2015

Leidtragende des Krieges im Donbass: die Kinder

Wie eine russische Ärztin im Kriegsgebiet Rettungsaktionen unternimmt

Die Autorin Antje Leetz ist eine genaue Kennerin der russischen Kultur, Gesellschaft und Sprache. Über die Konfliktlage in der Ostukraine versucht sie, durch Nutzung unterschiedlicher Quellen in verschiedenen Sprachen ein möglichst umfassendes Bild zu gewinnen. Sie sieht im Internet Reportagen des russischen Fernsehens über die Aktionen der Ärztin Jelisaweta Glinka, die seit dem letzten Sommer immer wieder verwundete und schwer kranke Kinder aus dem Kriegsgebiet holt. Besonders dramatisch ist das Schicksal des neunjährigen Wanja, der, von einer Granate der ukrainischen Armee getroffen, beide Beine und die rechte Hand verlor sowie schwere Augenverbrennungen erlitt. Antje Leetz beschließt, selbst nach Moskau zu reisen, um die als „Doktor Lisa“ bekannte Ärztin zu treffen. 
Jelisaweta Glinka erhält viel Aufmerksamkeit in den russischen Medien. Sie riskiert mit ihren Einsätzen ihr Leben. Schon bei einem der ersten, als über 30 schwer behinderte Waisenkinder aus einem Heim im heiß umkämpften Kramatorsk 100 km nördlich von Donezk herausgeholt wurden, wurde eine mit ihr vereinbarte 24-stündige Waffenruhe nicht eingehalten. Bereits seit Mai 2014, bevor der Krieg im Donbass begann, hat sie versucht zu helfen, weil in den Krankenhäusern dort Notstand herrscht. In ihrem Online-Tagebuch betonte Doktor Lisa schon damals den „gewaltigen sozialen Protest“ im Donbass: Proteste gegen die im Februar zuvor installierte anti-russische Regierung, die in der Südostukraine nicht anerkannt wird. Und trotz Krieg und Entbehrungen steht laut Berichten deutscher Journalisten die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin zu den nicht anerkannten Regierungen von Donezk und Lugansk. 
Der neunjährige Wanja kam, wie alle evakuierten Kinder mit einer Verwundung, in die Klinik des international angesehenen Kinderarztes Leonid Roschal, der sich weltweit für die Rettung von Kindern in Kriegs- und Katastrophengebieten einsetzt. Als Roschal den schwer verletzten Wanja sah, erklärte er öffentlich: „Ich lade alle Staatsmänner – Poroschenko, Putin, Obama, Merkel, Hollande – ein, am Bett des neunjährigen Wanja die Verhandlungen über die Ukraine weiter zu führen.“

Jelisaweta Glinka, die 1986, als Juden aus der Sowjetunion ausreisen durften, in die USA emigrierte, wo sie als Palliativmedizinerin arbeitete – sie kam wieder, als ihre Mutter im Sterben lag –, gründete im Jahr 2007 ihre eigene Stiftung „Gerechte Hilfe“. Geschaffen wurde sie ursprünglich für Menschen, die in Not sind und keine Hilfe finden: Arme, Obdachlose, Menschen, die im Sterben liegen. Mit dem Beginn des Bürgerkriegs in der Ostukraine kam eine weitere Aufgabe hinzu: dort zu helfen. 

Die nächste Fahrt nach Donezk steht bevor. Andrej, der Kollege, mit dem Doktor Lisa losfahren wird, übernimmt auch ihren Schutz, da sie in letzter Zeit immer häufiger durch das soziale Netzwerk bedroht wird. Dazu kritisieren „liberale Intellektuelle“, sie arbeite mit dem Putin-Regime zusammen. „Wäre es euch lieber, wenn die Kinder gestorben wären, die ich rausgeholt habe?“, antwortet Jelisaweta in ihrem Online-Tagebuch. „Jawohl, mit Hilfe des Gesundheitsministers rausgeholt habe!“ Eine Hilfe, die ihr dank ihrer Mitgliedschaft im Rat für Menschenrechte beim Präsidenten der Russischen Föderation zuteil wurde. Für ihr Mitmachen in diesem Gremium wurde sie ebenfalls kritisiert. Doch konnte sie damit, wie die Hilfe für die Kinder in der Ostukraine zeigt, auch etwas bewirken. 

Antje Leetz ist Herausgeberin, Übersetzerin und Autorin von Radiofeatures zum Thema Russland. Zu letzteren zählen: „Alle halten mich für ein Rätsel. Eine Reise in Gogols groteske Welt“ (mit Michael Leetz, rbb 2012), „Nicht weniger als eine Rettung. Lew Tolstoi und die Suche nach Visionen“ (rbb/NDR 2010) oder „Amazone der Revolution [link]. 12 Kapitel aus dem Leben der Alexandra Kollontai“ (SFB-ORB/SR/NDR 2003). 

Kein fremdes Leid

Eine russische Ärztin rettet ukrainische Kinder

Von Antje Leetz

SWR2, Reihe: Tandem
8. Juni 2015, 19.20 Uhr