Als „Weihnachtsgeschenk“ vor drei Jahren erstgesendet, ermöglichten zwei kurz aufeinander folgende Wiederholungen (zunächst im August bei Deutschlandradio Kultur), den Klangzauber eines Hörspiels und die bewegende Geschichte, die es erzählt, wieder- oder neu zu entdecken. Nun auch – in dieser zweiteiligen Fassung leicht gekürzt – zum Nachhören und (befristeten) Download.
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert begegnet sich an der Ostseeküste eine eigentümliche Feriengesellschaft: Die als wunderschön beschriebene junge Doralice, gesellschaftlich geächtet, weil sie ihren Ehemann, den Grafen Köhne-Jasky verlassen hat, hat mit ihrem neuen Mann, dem Maler Hans Grill, ein Fischerhäuschen gemietet. Jedoch „auf Schritt und Tritt kommt einem das alte Leben entgegen“, muss Doralice konstatieren, denn sie begegnet am Strand anderen Feriengästen, die ihr aus der zurückgelassenen adligen Welt bekannt sind: Da ist der Geheimrat Knospelius, ein kleiner, verkrüppelter Mann, der in einer hohen Funktion bei der Reichsbank tätig ist. Schließlich, und damit beginnt die Geschichte, treffen drei Generationen einer adligen Familie ein: die Generalin von Palikow mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn – Baronin und Baron von Buttlär –, den drei Kindern der Buttlärs, außerdem Leutnant Hilmar von Hamm, der mit Lolo, der ältesten Buttlär-Tochter, verlobt ist, sowie die Gesellschafterin der Generalin.
Doralice hat ihren Grafen ein Jahr zuvor verlassen. Inzwischen ist die Liebe von ihr und Hans in eine kleine Krise geraten. Die Stimmung zwischen beiden ist häufig gereizt. Etwas in ihrer Liebe sei zu Ende und etwas Neues fange an, drückt Hans es einmal aus.
Die neuen Strandbekanntschaften wirbeln nun das Beziehungsgeflecht durcheinander. Die durchgebrannte Gräfin hat eine starke Anziehungskraft, einerseits auf die jüngsten Buttlärs, insbesondere auf Lolo, die trotz ihrer Verlobung fast noch ein Kind ist, und erst recht auf Lolos Verlobten Hilmar.
Hans’ weltanschauliche Grundsätze sind die eines Freidenkers („freie Menschen und freie Liebe, das bindet nicht“), die auch die Eifersucht, wie er einmal beteuert, ausschlössen. Zur Eifersucht hätte er aber durchaus Anlass, da Doralice und Hilmar sich einander annähern. Das bleibt Hans nicht verborgen, er aber spielt, wie er sich eingestehen muss, eine „dumme Komödie des Vertrauens und der großmütigen Gelassenheit“ (Erzähler/Autor) – natürlich will er Doralice auf keinen Fall verlieren.
Die wohl interessanteste Figur der Geschichte ist der Geheimrat Knospelius. (Der seltsame Name ähnelt dem von E.T.A. Hoffmanns Figur Coppelius, man darf in ihm wohl auch ein Alter Ego des Autors Keyserling vermuten.) Anfangs weder dem nicht mehr gesellschaftsfähigen Paar noch der adligen Großfamilie sonderlich sympathisch, entwickelt sich Knospelius im Verlauf der Geschichte zu einer Hauptfigur: Er sucht die Gesellschaft der Anderen und ist Beobachter und geistvoller Kommentator des Geschehens, das er treffend deutet. Auch für Doralice wird er mehr und mehr zu einem Vertrauten.
Die sich aus den Verwirrungen der Gefühle ergebenden Spannungen treiben schließlich ihrem Höhepunkt zu: Der für Doralice schwärmende Hilmar ist bereit, Lolo zu verlassen und verlangt, dass Doralice sich von Hans trenne. Lolo, nachdem sie unerwartet Zeugin von Hilmars Avancen gegenüber Doralice wurde, geht mit Selbstmordabsichten ins Meer. Diese Tragödie wird in letzter Minute verhindert. Sie wird zum Anlass für die Abreise der Buttlär-Palikows.
Eine tatsächliche Tragödie ereignet sich erst, nachdem die Großfamilie den Schauplatz verlassen hat …
Wie es klingt
Mag die Geschichte anfangs einen biederen Eindruck machen, so entwickelt sie doch eine langsame, kontinuierliche, kaum merkliche Steigerung der Intensität bis hin zu ihrem tragischen Ende. Einen entscheidenden Beitrag dazu leistet die klangliche Produktion dieses Hörspiels: Beginnend bei der exquisiten Leistung der Sprecher, die beispielhaft bestätigen, was Hörspielregie-Altmeister Walter Adler in einem Gespräch einmal bemerkte, dass nämlich Stimmen „der Goldklumpen [sind], mit dem wir arbeiten“.
Da ist zunächst der Erzähler Hans Kremer, dessen warmem Bariton ich endlos zuhören könnte. Mit seinem ruhigen Duktus ist er bis zuletzt ein fast immer neutraler Beobachter.
Effi Rabsilbers helle, mädchenhafte Stimme war bereits in zahlreichen Hörspielen zu hören. Dieser Sprecherin ist die nicht einfache Aufgabe zugeteilt, dem „Star“ der Geschichte, der umschwärmten Doralice, eine Stimme zu verleihen. Und das gelingt ihr brillant. Die Schönheit ihrer Stimme steht für die Schönheit der Protagonistin, der die Menschen in ihrer Umgebung erliegen. Effi Rabsilber ist Doralice allein mit ihrer Stimme, die Freude, Schmerz, Ärger oder Wärme gleichermaßen auszudrücken vermag.
Peter Davors Hans Grill mit seiner männlich-markanten Stimme nimmt man den großen starken Mann, der er für Doralice ist, ab. Gleichwohl drückt Davor auch Hans’ Unsicherheit aus, die diesen wegen der häufig gereizten Stimmung zwischen ihm und Doralice ergriffen hat – und die damit verbundenen Verlustängste.
Ernst Jacobi, der den Knospelius gibt, seit Jahrzehnten auch als großartiger „Stimmspieler“ bekannt, ist ein weiteres Highlight dieser Produktion. Er verleiht seiner Figur deren weise Noblesse, ihre Lebensklugheit, die seiner Umgebung auch schon mal zuviel werden kann.
Die „Baronin“ Julia Jäger steht vor der Anforderung, die nervöse Überspanntheit einer Adligen mit Standesdünkel auszudrücken. Ihre Ansichten von „ehrlichen Frauen“ oder der „Heiligkeit der Ehe“ scheinen bereits zu der Zeit, in der diese Geschichte spielt, altmodisch zu sein. Jägers Baronin ist in einer latenten Aufgeregtheit zu hören, die wohl nicht nur der Natur der Figur entspricht, sondern von ihr auch an den Tag gelegt werden muss, um sich Geltung zu verschaffen.
Ingrid Andree schließlich, neben Ernst Jacobi die Seniorin und ein weiterer berühmter Name des Sprecherensembles, findet den richtigen – dominierenden, nicht zu strengen – Ton des Familienoberhaupts: Die Generalin, die ihr Regiment an der langen Leine führt und von der Eskalation der Ereignisse überrascht wird.
Auch die Musik geht in diesem Hörspiel in die Gehörgänge ein. Kein Wunder, sie stammt von dem für das Genre sehr gefragten und bereits preisgekrönten Komponisten Henrik Albrecht, dessen Handschrift der geübte Hörer unschwer erkennt. Der aus Köln stammende Musiker hat adäquat den Wellen eine wiegende, fließende Musik für Streicher und Klavier geschaffen, gelegentlich entfernt an Michael Nymans Filmmusik zu „The Piano“ erinnernd. Ein Klang, der einschmeichelnd begleitet und sich zu keiner Zeit aufdrängt.
Und wie heißen nochmal das Hörspiel und die Romanvorlage? Genau, und diesem Hauptdarsteller widmen sich Buchtext und Klangumsetzung auf unterschiedliche Weise. Was Keyserling in metaphernreichen Meeres- und Naturbeschreibungen wiedergibt, besorgt im Hörspiel der Klang. Das Brausen des Meeres, das Anschlagen der Wellen, die Möwen sind allgegenwärtig. Ein Meeres-Soundscape, dem ich auch ganz allein, ohne jede weitere Zutat lauschen könnte.
Und der Roman
Nicht zuletzt ist auf eine lohnende (Wieder-) Entdeckung, die Romanvorlage aufmerksam zu machen: Eduard von Keyserling (1855-1918), „Erzähler und Dramatiker des konsequenten Impressionismus“ (Lexikon der Weltliteratur, ed. Wilpert) erweist sich in „Wellen“ als feinfühliger Psychologe und subtiler Menschenbeobachter. Dass Keyserling in jüngerer Zeit der Vergessenheit entrissen wurde, spiegelt sich in der weiteren Hörspielproduktion „Dumala“, die ebenfalls das Team Steinbach/Leist besorgt hat.
Bei der Lektüre des Romans „Wellen“ werde ich künftig wohl immer die Stimmen und den Sound dieses Hörspiels im Ohr haben.
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