Der 80. Geburtstag des 1982 verstorbenen französischen Kultautors Georges Perec am 7. März fand nur auf SR 2 größere Beachtung. Kein Wunder, wurden doch ab 1968 beim SR eine Reihe höchst origineller Hörspiele von Perec produziert. Dazu kommt, dass der häufigste und bedeutendste deutsche Übersetzer des Franzosen, Eugen Helmlé, Saarländer war. Von der besonderen Beziehung der beiden, die sich in ihrer im letzten Jahr als Buch veröffentlichten brieflichen Korrespondenz spiegelt, erzählt ein am 8. März wiederholtes Feature.
Erste Kontakte und Übersetzungen
Im Februar 1966 schreibt der Übersetzer Eugen Helmlé „an Monsieur Georges Perec“ in Paris. Er will im Auftrag des Stahlberg Verlags Perecs Debütroman „Les Choses“, der auf Deutsch „Die Dinge“ heißen wird, übersetzen. Einige Unklarheiten möchte er mit Hilfe des Autors erhellen. Er stellt Fragen wie zum Beispiel, aus welchem Buch das Zitat von Karl Marx am Ende des Textes stamme. Perecs Roman hat in Frankreich den Prix Renaudot gewonnen. Er ist, wie es auch in seinem Untertitel heißt, eine Geschichte der sechziger Jahre: Ein Paar sucht den Sinn des Lebens jenseits der Dinge, aber die Konsumgesellschaft übt ihren Einfluss aus. Eugen Helmlé (1927-2000) hat bereits gemeinsam mit Ludwig Harig Raymond Queneau übersetzt, einen Mitbegründer der Gruppe Oulipo – die französische Abkürzung steht übersetzt für „Werkstatt für Potentielle Literatur“ [dazu mehr weiter unten].
Georges Perec antwortet auf die Anfrage aus Deutschland wie gewünscht. Der Satz von Marx „scheint nach umfangreicher Recherche gar nicht von Marx zu sein“, sondern von dem Filmregisseur Sergej Eisenstein Marx zugeschrieben. Der Schriftsteller fragt den Übersetzer auch, ob diesem die zahlreichen Zitate aus Flauberts „Education Sentimentale“ (Lehrjahre des Gefühls) aufgefallen sind. Helmlé verneint das in seiner darauffolgenden Antwort und dankt für den Hinweis.
Der Briefwechsel zwischen Eugen Helmlé und Georges Perec, der beider zwischen 1966 und 1982 verfasste Korrespondenz enthält, taucht erst 2011 auf. Die an Helmlé gerichteten Briefe hatte dessen Witwe Margrit gefunden, die von ihm geschriebenen befanden sich im Perec-Archiv in der Bibliothèque de l’Arsenal. In der dort angesiedelten „Association Georges Perec“ (Perec-Gesellschaft), die 1982 gegründet wurde, wird der Briefwechsel zusammengeführt. Die Autorin dieses Features, Tilla Fuchs: „Die Korrespondenz gewährt seltene Einblicke in die kongeniale Übersetzertätigkeit und die Genese von Romanen und sie erzählt von einer außergewöhnlichen nicht nur literarischen Freundschaft.“
Der Anfang dieser Beziehung war aber schwierig: Weil Eugen Helmlé Deutscher war, habe Perec ihm anfangs misstraut. Ella Bienenfeld, Georges’ betagte Cousine und eine der Zeitzeuginnen dieses Features, habe dies von Helmlé erfahren – nicht von Perec. Der Grund dafür liegt darin, dass Georges’ Eltern, polnischstämmige Juden, Opfer des Krieges wurden: Sein Vater fällt als Soldat im Juni 1940 während des Westfeldzugs der Deutschen Wehrmacht, seine Mutter, die den kleinen Sohn in die freie Zone in Sicherheit gebracht hatte, wird deportiert und stirbt 1943 in Auschwitz. Zurück in Paris wird der kleine Georges von seiner Tante adoptiert und lebt fortan in deren Familie, den Bienenfelds. Seine Reserviertheit gegenüber dem Land seines Übersetzers zeigt sich etwa, wenn er an Eugen Helmlé in „Deutschland über alles“ adressiert.
Zum ersten Mal begegnen sich Schriftsteller und Übersetzer im April 1966 in Paris. Perec reist im Oktober des gleichen Jahres zum ersten Mal nach Deutschland, um gemeinsam mit Helmlé an der Übersetzung seines Nachfolgeromans zu „Die Dinge“ zu arbeiten. Dieses kurze Buch wird entsprechend dem Original auch in der Übersetzung einen langen Titel erhalten: „Was für ein kleines Moped mit verchromter Lenkstange steht dort im Hof?“
Georges sei ein netter, lebendiger Typ gewesen, erinnert sich Eugens Witwe Margrit in dem Feature. Helmlé war nach ihren Worten zurückhaltender. Es verwundert nicht, dass sich Perec in Deutschland zunächst gar nicht wohlgefühlt habe. Paulette Perec, Georges’ Ex-Ehefrau, mit der er 20 Jahre verheiratet war, ergänzt, dass Helmlé wohl der erste Deutsche war, zu dem Perec Kontakt hatte. Der Krieg lag ja noch nicht lange zurück. Wegen des Schicksals seiner Mutter gab es bei Georges eine „Ablehnung gegenüber Deutschland und bei mir dadurch auch.“ Bezogen auf Eugen Helmlé jedoch: „Es war kein Deutscher, der da zu uns kam.“ Paulette Perec kümmert sich heute in der Perec-Gesellschaft um den Nachlass ihres Mannes.
Oulipo und „La Disparition“
Perec schreibt Helmlé im März 1967, dass Raymond Queneau ihn zu einer Versammlung der „Oulipo“ eingeladen hat. Diese internationale Autorengruppe hat sich um Queneau, Italo Calvino und Oskar Pastior gebildet. „Ein oulipotistischer Autor“, so zitiert das Feature Queneau, „ist wie eine Ratte, die selbst das Labyrinth baut, aus dem sie zu entkommen sucht.“ Er arbeitet beispielsweise mit Palindrom, Anagramm, er erfindet „contraintes“ (formale Zwänge, literarische Strukturregeln), die er Texten auferlegt. Bei Queneau etwa in Form von Neologismen oder Wortkompositionen. Perec wird in die Gruppe aufgenommen.
Im Februar 1968 teilt er seinem inzwischen „Lieber Eugen“ angeredeten, aber noch gesiezten Übersetzer mit, dass er an einem Roman ohne „e“ schreibe, eine anstrengende und gleichzeitig faszinierende Arbeit. „La Disparition“ wird seinen toten Eltern gewidmet sein. In seinem eigenen Roman „Im Nachtzug nach Lyon“ verzichtet Helmlé von Perec angeregt seinerseits auf das e, in einem weiteren in zwei verschiedenen Teilen einmal auf das e, dann auf das r, „das ist wie ein Virus“ – Oulipo lässt grüßen. Seine Übersetzung der „Disparition“ heißt, mit dem Namen der Roman-Hauptfigur im Titel, „Anton Voyls Fortgang“.
Paulette bezeichnet ihn als „Maître“ der Übersetzung. „Eugen stellte alle wichtigen Fragen.“ Seine und Georges’ Korrespondenz enthalte einen fundierten technischen Austausch. „Er ist der Vater aller Übersetzungen.“ In den Worten von Tilla Fuchs sind Helmlés Übersetzungen nicht nur syntaktische Übertragungen, sondern Wortschöpfungen, eigene Versionen, mehr Entsprechungen als Übersetzungen.
„Die Maschine“
Schließlich regt Helmlé Georges Perec zum Verfassen eines Hörspiels an. Dessen Antwort enthält das Konzept zu dem berühmt gewordenen Hörspiel „Die Maschine“, 1968 vom SR urgesendet: „Lieber Eugen, die Idee […] wäre ein innerer Monolog mit mehreren Stimmen, vorzugsweise stereophon. Was spricht […], ist eine riesige elektronische Maschine […] Diese Maschine löst alle Probleme, man füttert sie mit Elementen, die sie liest und analysiert. Sie gibt Antwort, sie verfügt über Gedächtnis, Speicher, eine Sprache, eine Syntax. Sie spricht mehrere Fremdsprachen, sie übersetzt. Sie rezipiert Kafka, wenn man ihr Kafka zu lesen gibt und Ponge wenn man ihr Ponge zu lesen gibt. Sie trifft Entscheidungen, kontrolliert, organisiert, komponiert, befiehlt, berechnet, antwortet warm.“ Das Stück basiert auf einer sprachlichen, von Perec vorgegebenen Variation des Goethe-Gedichts „Wanderers Nachtlied“. Im Feature erinnert sich Werner Klippert, von 1970 bis 1986 Hörspielchef des SR: Er empfand dies als „hervorragende dramaturgische Idee. Ich hab gedacht, müssen wir unbedingt senden. […] Einen Computer direkt auf ein Sprachstück anzusetzen. Für mich ist dieses Aufeinanderprallen von Mathematik und Poetensprache so etwas wie eine Kernspaltung. Nie ein besseres Hörspiel geschrieben worden in dieser Machart wie ,Die Maschine‘. Man sollte ihm den Jahrhundertpreis geben für experimentelle Hörspielmache“.
Zwischen 1968 und 1982 schreibt Georges Perec fünf Hörspiele für den SR, in Zusammenarbeit mit Helmlé und (häufig) dem Komponisten Philippe Drogoz. Helmlé war in dieser Gemeinschaft nicht nur Übersetzer. „Beide“, Perec und Helmlé, seien Autor, unterstreicht auch Werner Klippert, „das war bei allen Stücken so“. Der Grundriss stammte von Perec, wurde genau besprochen mit Helmlé und dann von seinem deutschen Partner geschrieben. Im Fall der „Maschine“ lieferte Helmlé die Variationen des deutschen Gedichts nach den Vorgaben des Autors.
Diese Hörspielarbeit war prägend für den SR, wie Klippert erzählt – und es entstand eine besondere Form der Zusammenarbeit: Wolfgang Schenck, von der Funktion her Regisseur, war faktisch nur einer von drei bis vier Regisseuren. Dazu kamen Philippe Drogoz, wenn er dabei war, Perec und Helmlé, die „führten gemeinsam Regie“.
Mit der Zeit ist Georges Perec ein gern gesehener Gast bei Helmlés im saarländischen Sulzbach, wo er auch Ludwig Harig trifft. Die Briefe drehen sich nun auch um Privates – und hier kommt das Zitat aus dem Sendungstitel ins Spiel. Helmlé berichtet seinem französischen Freund, dass er zu Hause an einem eigenen Schwimmbad baut. Bei seinem nächsten Besuch an der Saar solle Georges an die Badehose denken – wohl, um sich ebenfalls in den fertiggestellten Pool stürzen zu können.
„Das Leben Gebrauchsanweisung“
„Ich habe mich an einen riesigen Roman in Form eines Puzzles gemacht“, schreibt Perec in den siebziger Jahren nach Sulzbach. „La Vie mode d’emploi“ erscheint 1978 und wird das Hauptwerk seines Autors. Es wird mit dem Prix Medicis ausgezeichnet. „Das Leben Gebrauchsanweisung“, die von Eugen Helmlé übersetzte 900 Seiten starke deutsche Ausgabe, wird 1982 erscheinen. Das Buch „stellt in puzzleartiger Anordnung die Bewohner eines Hauses in Paris vor“ (Tilla Fuchs). In 99 Kapiteln werden 99 Räume durchmessen. Hauptfigur ist der englische Milliardär Bartlebooth, der Aquarelle malt, aus denen er sich Puzzles anfertigen lässt, um sie schließlich wieder zu zerstören. 1975 stirbt Bartlebooth vor einem Puzzle sitzend.
Der Briefwechsel zwischen Georges Perec und Eugen Helmlé endet genauso wie er begonnen hat: mit einem ausführlichen Fragebogen zu kuriosen Vokabeln, „La Vie…“ betreffend: Im Dezember 1980 fragt der Übersetzer unter anderem nach der Existenz einer bestimmten Weinsorte. Er hofft, nach fast einem Jahr mit der Übersetzung fertig zu werden.
Ab 1981 reist Perec viel: nach Australien und in Europa. Im letzten erhaltenen Brief von Georges an Eugen vom 17. Dezember 1980 antwortet der Autor auf die Fragen seines Übersetzers. „Herzlichen Glückwunsch für diese Übersetzung, die sicherlich kein Zuckerschlecken war.“ Helmlés letzter Brief an Perec datiert vom Januar 1982 aus Malaga. Auf diesen kann der französische Freund nicht mehr antworten: Georges, bei dem Krebs diagnostiziert worden war, stirbt daraufhin unerwartet schnell: am 3. März 1982, kurz vor seinem 46. Geburtstag. Eugen Helmlé erleidet 2000 einen Herzinfarkt auf seinem Sportgerät – ausgerechnet der Sportfanatismus hat ihn womöglich das Leben gekostet.
Zu keinem anderen seiner Übersetzer hatte Georges Perec eine vergleichbare Beziehung wie zu Eugen Helmlé, betont in dem Feature auch Jean-Luc Joly, Sekretär der Perec-Gesellschaft. „Es war eher eine literarische Zusammenarbeit.“ Joly macht dies an einem Beispiel fest: Perec habe die dritte „oulipotische Contrainte“, nach der „Das Leben Gebrauchsanweisung“ konstruiert ist, ausschließlich Helmlé offenbart.
„Cher Georges – Cher Eugen. Die Korrespondenz zwischen Eugen Helmlé und Georges Perec 1966-1982“, herausgegeben von Ralph Schock, erschien 2015 im Conte Verlag.