Deutschlandfunk, 28. Juni 2016

Geheimverhandlungen und „Tricksereien“

Das Freihandelsabkommen CETA vor der Ratifizierung?

Die kanadische Handelsministerin Chrystia Freeland bei einer Pressekonferenz im Bundeswirtschaftsministerium: „Ich glaube, CETA wird der ,Gold-Standard‘ für zukünftige fortschrittliche Freihandelsabkommen.“ Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel sieht eine „exzellente Messlatte für die Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten“, einen Mindeststandard, den es einzuhalten gelte.

Blaupause für TTIP

In Berlin ist auch die Kanadierin Maude Barlow von der NGO „Council of Canadians“, Trägerin des Alternativen Nobelpreises. Im Gespräch mit Peter Kreysler, dem Autor dieses Features, erläutert sie, CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement) „sei von seiner Architektur her durchaus vergleichbar“ mit TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership), dem zurzeit verhandelten – heftig umstrittenen – Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA. Fünf Jahre lang wurde für CETA im Geheimen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, verhandelt. Sage und schreibe 1300 Seiten umfasst der Vertrag. Inhaltlich gehe es unter anderem um Abschaffung von Zöllen und Steuern, Deregulierung, Harmonisierung von Produkten und einen Regulierungsrat zur Umgehung der Parlamente bei den Verhandlungspartnern. Unternehmen, Lobbyisten und Bürokratien würden noch vor dem parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren kooperieren („regulatorische Kooperation“). Vor Investor-Schiedsgerichten könnten Staaten von Firmen verklagt werden, wenn diese ihren Profit durch gesetzgeberische Maßnahmen geschmälert sehen. Und diese Schiedsgerichte bestünden unabhängig von nationalstaatlichen Gerichten. 
Einige dieser Punkte werden im Verlauf des Features genauer ausgeführt.

Der Protest vieler Bürger in Europa gegen TTIP setzt bei der Gefahr für die Qualität der Lebensmittel an. Befürworter des Abkommens mit Kanada bestreiten dagegen mit Nachdruck, „dass durch CETA Umwelt-, Verbraucher- und Arbeitsrechtsstandards verändert würden“ (Peter Kreysler). Maude Barlow erkennt bereits jetzt eine „downward harmonization“, sozusagen eine Harmonisierung, die zu einer Verschlechterung führt: Die EU-Kommission habe beispielsweise bereits auf das Verbot von bestimmten Pestiziden verzichtet.

Abschied vom Vorsorgeprinzip?

Bei der Behandlung möglicherweise gefährlicher Substanzen gehen Europa und Nordamerika bisher unterschiedlich vor: Nach dem europäischen Vorsorgeprinzip darf ein Pestizid erst zugelassen werden, wenn seine Unschädlichkeit nachgewiesen ist. In Nordamerika wird ein chemischer Stoff schneller zugelassen: Er wird, wenn eine Gefährlichkeit nachgewiesen ist, unter Umständen erst nach bereits erfolgter Zulassung vom Markt genommen.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Hardt, Koordinator für die transatlantische Zusammenarbeit der Bundesregierung, „glaubt“ (O-Ton im Feature), dass das europäische Vorsorgeprinzip „durch das kanadische Abkommen nicht tangiert wird.“ Er ist zuversichtlich, dass CETA ratifiziert wird.
Anders sieht das der Völkerrechtler Professor Peter-Tobias Stoll: Das Vorsorgeprinzip komme im CETA-Vertrag überhaupt nicht vor. Ist die EU damit bereit, es preiszugeben? Soll es durch eine im Vertrag erwähnte „Science Based Regulation“ (wissenschaftlich basierte Zulassung) ersetzt werden? Mögliche Interpretation für Stoll: „Es wird nur reguliert, was in der Wissenschaft eindeutig als gefährlich angesehen worden ist.“

Regulatorische Kooperation

Regulatorische Kooperation meint Regulierungszusammenarbeit von einer zentralen Stelle, die nur mit Vertretern der Exekutive beider Handelspartner besetzt ist, meint Maude Barlow. Professor Stoll sieht die Gefahr des Beteiligungsausschlusses von Europäischem Rat und EU-Parlament. Das Konzept der „Regulatorischen Kooperation“ sei juristisch neu. Vage Formulierungen im CETA Vertragstext würden viele Auslegungsmöglichkeiten erlauben.

Investor-Schiedsgerichte

Die geplanten Investor-Schiedsgerichte stehen besonders in der öffentlichen Kritik. Die EU-Kommission brachte deshalb einen Reformvorschlag in den Vertragsentwurf, genannt „Investor Court Systems“ (ICS: Investitionsgerichts-System), die das „Investor-state dispute settlement“ (ISDS; deutsch meist Investor-Staat-Schiedsverfahren) ablösen sollen. Die Schiedsgerichte würden demnach öffentlich statt geheim tagen und eine Berufungsinstanz haben. Auch sollen die Konfliktparteien nicht mehr ihre eigenen Schiedsrichter benennen können. Diese würden nunmehr auf politischer Ebene ausgewählt werden, wenn es sich auch weiter um Wirtschaftsanwälte, nicht Berufsrichter handeln soll. Die Antilobby-Aktivistin Pia Eberhardt vom Corporate Europe Observatory (CEO) sieht darin Verbesserungen zugunsten der Transparenz. An den grundsätzlichen Risiken, die mit einer Realisierung des CETA-Vertrags verbunden wären, würde sich aber nichts ändern.
Immerhin: „Kanada hätte gerne auf die Schiedsgerichte komplett verzichtet“, so die Kanadische Botschaft zu Peter Kreysler. Grund: Das Land wurde nach dem NAFTA-Abkommen zwischen Kanada, den USA und Mexiko bisher am häufigsten verklagt – mit Folgekosten im dreistelligen Millionenbereich. Auf die Frage, warum die kanadische Regierung nun aber doch zustimmt, weicht Ministerin Freeland in der eingangs erwähnten Pressekonferenz aus.
Und Jürgen Hardt zeigt sich uninformiert: Angeblich, so der CDU-Politiker, werde bezüglich Gerichts- oder Verfahrenskosten Unwahres erzählt. „Die Gebührenordnung dieses neuen Schiedsgerichts im Rahmen des CETA-Abkommens“ aber kenne er nicht, so Hardt im Feature. Matthias Machnig, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, spricht von 4000 Dollar oder Euro pro Sitzungstag für einen Richter. Mitbedacht als Kosten für Steuerzahler müssen aber auch Entschädigungen für Unternehmen und Anwaltsrechnungen. Ein Wirtschaftsanwalt, der als Richter berufen wird, verdient pro Fall laut einer CEO-Studie von 2012 1,5 Millionen Euro. Pia Eberhardt weiß außerdem: „In den letzten zwei Jahrzehnten ist der Markt für Investor-Staats-Klagen wirklich explodiert.“ Und Schadenersatzsummen beliefen sich auf bis zu 50 Milliarden US-Dollar. Eberhardt spricht im Feature von „großem Interesse der Schiedsindustrie“ an solchen Klagen. Die Staaten sollten keine weiteren Klagerechte erteilen.

Prozessfinanzierung: ein lukrativer Markt

Markt für Klagen, Schiedsindustrie: Was steckt dahinter? In New York besucht Peter Kreysler „Fulbrook Capital Management“, den größten Schiedsgerichts-Prozessfinanzierer der Welt. Sein Erfinder und Gründer Selvyn Seidel „hat aus der Idee, Staaten zu verklagen, eine milliardenschwere Geschäftsidee entwickelt.“ Die Firma „verdient besonders viel mit Klagen im Rohstoffsektor. Oft können Regierungen die massiven Umweltverschmutzungen, die zum Beispiel durch den Gold- oder Ölabbau entstehen, nicht weiter tolerieren und entziehen Firmen die Förderlizenz“. Dann sei Fulbrook zur Stelle.
Selvyn Seidel, früher selber jahrzehntelang Richter in Schiedsverfahren, erklärt, er verstehe sich nur als Mittelsmann „zwischen einem angeblich vom Staat geschädigten Unternehmen und einem Investor, der mit der Klage Geld verdienen will“ (Kreysler). Das Risiko ist sehr hoch, der mögliche Gewinn entsprechend auch. Seidel nennt das Beispiel der Vattenfall-Schadenersatzklage gegen Deutschland wegen des Atomausstiegs. Bei acht Millionen Dollar Einsatz könnten 118 Millionen Gesamtgewinn herauskommen – sofern Vattenfall den Prozess gewinnt. Moralische Bedenken? Selvyn Seidel: „Natürlich müssen die Länder die Umwelt, die Gesundheit ihrer Bürger schützen, aber wenn sie dabei einen Investitionsvertrag brechen, dann kann man nur sagen: Tja Pech gehabt – dann müssen sie dafür eben zahlen.“

Ratifizierung: Wer muss dem Vertrag zustimmen?

Der Ratifizierungsweg ist noch nicht endgültig geklärt. Werden neben dem EU-Parlament auch die Parlamente der Mitgliedsstaaten darüber abstimmen? Jürgen Maier vom Forum Umwelt und Entwicklung: „Der Prozess ist hochgradig kompliziert […], er ist in Teilen auch gar nicht richtig geregelt.“ Der Rat könne auch eine vorläufige Anwendung beschließen: Das Abkommen würde bereits angewendet, bevor alle 28 Mitgliedsstaaten ratifiziert haben. Was bei Nichtratifizierung auch nur eines Staates aber passiert, ist nicht geklärt. Peter Kreysler: „Zur Zeit sieht es so aus, als würden einige Länder die CETA-Ratifizierung verweigern“. Dann könne, so der Völkerrechtler Till Patrik Holterhus, CETA „in der ausgehandelten Form nicht in Kraft treten. Lehnt ein EU-Mitgliedsstaat als Vertragspartei das Abkommen endgültig ab, so wirkt sich dies auch auf eine bereits auf der Ebene der EU beschlossene vorläufige Anwendung des Abkommens aus.“ Auf den gegenwärtigen Verhandlungsprozess bezogen spricht der grüne EU-Abgeordnete Martin Häusling in diesem Feature von „Tricksereien“: „Man versucht, durch die Hintertür ein Abkommen in Kraft zu setzen, wo man weiß, die Mehrheiten sind dafür nicht gewiss.“

(Text und Zitate nach dem Sende-Manuskript.)

Peter Kreysler verfasste über TTIP bereits das Feature „TTIP – Transatlantischer Traum oder der Ausverkauf der Demokratie?“ Zuvor wurde von ihm gesendet: „Rohstoff-Roulette. Das gefährliche Spiel um Platin, Petroleum und Palmöl“ (WDR/DLF/SWR 2013).

Update 5.7.2016: Entgegen einer zuvor geäußerten Absicht sollen laut Europäischer Kommission nun doch die nationalen Parlamente über CETA mit abstimmen. „Damit der Zeitplan nicht durcheinanderkommt“ (DLF), sieht es, wie auch im Feature erwähnt, nach einer vorläufigen Anwendung des europäisch-kanadischen Handelsabkommens aus.
Mehr zur Ratifizierung auch bei stop-ttip.org.

„Goldstandard“ oder Etikettenschwindel?

Das Ringen um das europäisch-kanadische Freihandelsabkommen CETA

Feature von Peter Kreysler
Sprecher: Stephan Schad, Sigrid Burkholder, Walter Gontermann, Claudia Mischke, Thomas Lang
Regie: Matthias Kapohl
Deutschlandfunk 2016

Deutschlandfunk
28. Juni 2016, 19.15 Uhr, 45 min.