Die Japanologin Barbara Geschwinde hatte nach der Dreifach-Katastrophe vom 11. März 2011 wegen der radioaktiven Strahlung Angst, das Land wieder zu betreten. Sie beschloss nun, in die Präfektur Fukushima zu reisen und will sogar die Sperrzone betreten.
Sie trifft den Fischer Sakurai Yoshimori, der an jenem 11. März vor vier Jahren, um sein Schiff zu retten, nach dem Erdbeben mit seinem Boot weit aufs Meer hinaus gefahren war und von dort aus die Flutung des Akw durch den Tsunami sah. Sein Haus, in dem sich Frau und Schwiegertochter befanden, stand nur fünf Kilometer vom Akw entfernt. Als er ins Haus zurückkehren wollte, hatte der Tsunami es mitsamt seinen Angehörigen fortgerissen. Sakurai ist über 70 und will nicht mehr in die Heimat zurück. Er weiß, wäre er am 11.3.2011 zu Hause geblieben, wäre er umgekommen. Heute lebt er mit seinem ältesten Sohn in Iwaki, knapp 50 km vom Atomkraftwerk Fukushima Daiichi entfernt. In Iwaki haben sich viele nach der Katastrophe Evakuierte ein neues Heim eingerichtet. Sakurai fühlt sich heute heimatlos, traurig und einsam.
Die Englisch-Lehrerin Hiromi stammt wie Sakurai aus dem Dorf Namie. Sie nimmt die Autorin in die heutige Sperrzone mit – ohne Schutzkleidung oder Mundschutz, was auch nicht kontrolliert wird. Hiromi darf hinein, weil sie dort ein Haus besitzt. Am 11.3.2011 erlebte sie das Erdbeben und rettete sich mit einer ihrer Töchter ins Freie. Alles ist noch so, wie Hiromi es verlassen hatte. Aber es ist klar, dass eine Rückkehr nicht möglich ist. Hiromis Familie erfuhr aus dem Fernsehen, dass alle, die im Umkreis von 10 Kilometern vom havarierten Akw wohnten, ihr Heim verlassen müssen. Vier Jahre später ist die Route 6, die nicht nur durch das Sperrgebiet führt, sondern auch den Süden Japans mit dem Norden verbindet, repariert und gereinigt, ohne erhöhte radioaktive Belastung.
Hiromi sagt heute, dass sie die Herkunft der Lebensmittel wie Gemüse und Reis prüft und kein Leitungswasser trinkt. Sie hat kein Vertrauen in die Regierung und ist misstrauisch gegenüber den offiziellen Angaben radioaktiver Belastung von Nahrungsmitteln. Kinder dürfen in der Region Fukushima nicht mehr draußen spielen und haben deshalb häufig Übergewicht. Die allgemeine Verunsicherung führt dazu, dass radioaktive Belastung auf Spielplätzen mit Geigerzählern selbst gemessen wird. Zudem häufen sich in der Region Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern.
Die Katastrophe von Fukushima spaltet die japanische Gesellschaft. Die Evakuierten können dort, wo sie untergebracht werden, eine Belastung sein. Die 300.000-Einwohner-Stadt Iwaki, die an die Sperrzone angrenzt, nahm bis zu 50.000 „Atomflüchtlinge“ auf. Manche der Flüchtlinge leben schon seit vier Jahren in Containern, die Vergabe von Entschädigungen ist sehr ungleich und ungerecht. Hiromi bekam nach eigener Aussage eine gute Entschädigung, von der sie ein neues Haus bauen konnte. Sie spürt aus diesem Grund aber auch Neid. „Die Katastrophe hat auch die Herzen der Menschen beschädigt“, sagt der buddhistische Mönch Toku’un Tanaka, der sich gegen Atomkraft schon lange vor 2011 engagierte. Auch er misst selber mit einem Geigerzähler die radioaktive Strahlung – schon seiner vier Kinder wegen.
Der 11. März 2011 ist ein Einschnitt im Leben aller Japaner, betont die Autorin. Familien, die einst zusammenlebten, sind auseinandergerissen. Verbreitet ist die Sorge um künftige Generationen und die Enttäuschung über den Akw-Betreiber Tepco und die Regierung. Kritische Berichterstattung durch Journalisten ist unerwünscht. „Heute bin ich gegen Atomkraftwerke“, sagt Hiromi, die vor dem Erdbeben darüber nie nachgedacht hatte.
Von der Autorin Barbara Geschwinde wurde zuletzt gesendet: „Dem Chaos eine Ordnung geben“.