Heute nur noch Wenigen bekannt ist der Schweizer Cellist, Gambist, Dirigent, Musikforscher und Pädagoge August Wenzinger (1905-25.12.1996). Er zählt zu den frühesten Pionieren des Spielens Alter Musik in der historischen Aufführungspraxis. Sein zwanzigster Todestag war für die Samstagabendsendung auf NDR Kultur Anlass, an diesen außergewöhnlichen Musiker und die Zeitumstände seines Wirkens zu erinnern. Im Zentrum der Sendung steht ein (nunmehr selber historisch gewordenes) Gespräch, das Hans-Heinrich Raab im Oktober 1990 mit August Wenzinger kurz vor dessen 85. Geburtstag in Wenzingers Haus in Basel führte.
August Wenzinger wurde 1905 in eine musizierende Familie hineingeboren, in der ihm, wie er erzählt, als Instrument das Cello zugewiesen wurde, das er mit neun Jahren zu spielen begann und auf dem er schnell Fortschritte machte. Er wollte dann auch Berufsmusiker werden und ging folgerichtig in Basel ans Konservatorium.
Wenzingers musikalischer Werdegang in jungen Jahren wurde dann, wie er es im Gespräch ausdrückt, von dem Trauma geprägt, das der Erste Weltkrieg mit seinen ganz neuen „Vernichtungsmitteln“ wie dem Gaskrieg ausgelöst hatte. Die Jugend sah „Zeichen, dass die alte Generation abgewirtschaftet hatte“. Auf musikalischem Gebiet bedeutete das eine Abgrenzung von Romantik und Spätromantik. Wenzinger erinnert sich – es mag das Jahr 1924 gewesen sein – an ein Hauskonzert der Gruppe „Les Cinq“, der er angehörte und die moderne Musik (Debussy, Weill, Hindemith) spielte. Zu „Les Cinq“ gehörte auch Paul Sacher (1906-1999), der damals auch die Alte Musik bereits pflegte und ein enger Weggefährte von August Wenzinger werden sollte.
„Alte Musik“, so schilderte es August Wenzinger 1990, bedeutete in den 1920er Jahren eher „neue Alte Musik“: Komponisten wie Strawinsky oder Prokofjew griffen in ihrer „klassischen Periode“ auf alte Formen zurück. Das lief parallel zur Verbreitung des Interesses an „historischer klassischer Musik“, wobei die „neue Alte Musik“ das Publikum mehr interessierte.
Entdeckung der Viola da Gamba
Wie nun kam August Wenzinger zur Gambe, wurde der knapp 85-Jährige von Hans-Heinrich Raab gefragt. „Wie der Hund zum Tritt“ lautete die Antwort. Im Museum in Basel gab es einige Gamben, die zum Teil spielbar waren. Wenzinger kam ins Seminar des Musikwissenschaftlers Karl Nef, der ihn bat, den Mitstudenten die Gambe des Museums vorzuführen. Der junge Cellist war anfangs „geschockt“, er sah sich vor eine schwierige Aufgabe gestellt: Die Gambe hatte sechs Saiten in Quart-Terz-Stimmung und durch ihre Bauweise – wie etwa ein breiterer Hals – einen ganz anderen „Toncharakter“. Wenzingers Lehrer wie zum Beispiel Paul Grümmer (1879-1965) spielten zwar auch die Gambe, jedoch in Cello-Manier mit einem Cello-Bogen. Das Gamben- war somit sehr nah am Cellospiel, denn: Virtuose Cellisten wollten, wenn sie Gambe spielten, ihre Technik nicht verderben, „Dilettanten“ hielten es nicht für nötig, die ihre zu verbessern. Damals bestand auch das Vorurteil, es handele sich bei Musik für Gambe um Dilettanten-, Liebhabermusik – ein Irrtum. Die Gambe komme mit ihren Vorzügen und Eigenschaften tatsächlich erst dann zur Geltung, wenn man die instrumentalen – virtuosen – Mittel ausschöpft. Die größten Instrumentenbauer – Wenzinger nennt namentlich den Tiroler Jacob Stainer (17. Jahrhundert), von dem er eine Gambe und ein Cello besaß, sowie den Niederländer Pieter Rombouts (um 1700) – bauten hervorragende Instrumente, die einer Stradivari-Geige ebenbürtig waren. Und die Komponisten schrieben für wenige hervorragende Virtuosen, die den großen Geigern in nichts nachstanden.
Mit der virtuosen Gambenliteratur, wendet sich Hans-Heinrich Raab an seinen Gesprächspartner, ist August Wenzinger in den 1920er und -30er Jahren bereits aufgetreten und sorgte für Überraschung und Aufregung, weil das Publikum mit diesen Spielarten der Gambe gar nicht gerechnet hatte. Von Anfang an, erzählt Wenzinger, habe er sich um die solistische Gambenliteratur bemüht. Als Beispiel nennt er ein – „hervorragendes“ – Lehrwerk von Christopher Simpson von 1659, „The division-viol“, durch dessen Musikbeispiele er auf Meisterwerke gestoßen sei. Das Werk sei ein Beispiel für die Vorliebe der Engländer für Variationen („divisions“) über einen „Grundbass“ (ground/Basso continuo).
Ein „Dilettant“ wird zum „Stammvater“
Um im Ensemble spielen zu können, mussten (nicht nur Streich-) Instrumente beschafft bzw. nach alten Vorbildern neu gebaut werden. Wenzinger: „Ein großer Schritt in dieser Richtung […] war ein Dilettant“, der Papierfabrikant Hans Eberhard Hoesch (1891-1972) in Hagen/Westfalen, der Musikliebhaber war und eine Leidenschaft für alte Instrumente hatte – „Stammvater“ der Originalinstrumente nennt ihn Alice Harnoncourt in einer Interview-Einspielung an anderer Stelle in dieser Sendung. Hoesch kam laut Wenzinger durch das Studium alter Literatur und alter Instrumente sowie durch eine persönliche Sensibilität für Klangeigenschaften zu der Erkenntnis, dass der Zustand der modernen Instrumente nicht dem Zustand der alten, aber auch nicht dem alten Klangideal entsprach. Von Hoesch ging die Anregung aus, ein Ensemble zusammenzustellen mit Instrumenten „in der alten Mensur“. Was das bedeutet, dafür nennt August Wenzinger einige Kriterien: Gamben, die im 19. Jahrhundert weiterverwendet wurden, wurden umgebaut: Man verwendete den Hals der Geigen und Celli, um die Spannung der Saiten zu erhöhen. Der weiche, homogene Klang, der das alte Gambenensemble kennzeichnete, ging damit verloren. Gegenüber dem modern gewordenen Streichquartett hatte es einen anderen Klangcharakter: Zum Beispiel haben im Gambenensemble alle vier Instrumente Bünde, was zu einem Klangausgleich zwischen ihnen führe. Das Obertonspektrum sei bei allen Instrumenten ähnlich oder gleich und schließlich die Tonqualität der (hellen) Diskantgambe viel ähnlicher der Tonqualität der Bassgambe als im Vergleich Violine zu Cello.
20 Jahre Quellenforschung
Ab Ende der 1920er Jahre, erzählt August Wenzinger, veränderte sich die Beschäftigung mit Alter Musik: Gegründet wurden Verlage wie Bärenreiter, die die Musik erst zugänglich machten, dazu Chöre, die die Vokalmusik kultivierten und eben die Instrumentalensembles. Wenzinger hat Lehrwerke selbst abgeschrieben oder fotografiert und dabei die Technik der alten Gambenspieler studiert. Der Befragte nennt als Beispiele Silvestro Ganassi [„Regola rubertina“] und Diego Ortiz [„Tratado de glosas“, beide 16. Jh.]. „Die Quellenforschung hat bei mir mindestens zwanzig Jahre gedauert.“
Gründung der Schola Cantorum Basiliensis
1933 gründete Paul Sacher die Schola Cantorum Basiliensis, in der August Wenzinger von Anfang an eine wichtige Rolle spielte. Dem Gründerkreis, zu dem auch die auf Gregorianischen Gesang und protestantisches Kirchenlied spezialisierte Niederländerin Ina Lohr gehörte, hatte, so erzählt es Wenzinger, ein Ort gefehlt, wo Grundlagen der Alten Musik (anfangs vor allem Barock) untersucht, gelehrt und ausgeführt werden. Anerkennung fand die „Schola“ allerdings erst eine ganze Generation später, weil bis ins 20. Jahrhundert die Alte Musik uninteressant schien.
Wenzinger beginnt zu dirigieren
Innerhalb der Schola Cantorum Basiliensis formierte sich eine Konzertgruppe, der August Wenzinger angehörte: Bald, so der Interviewte, entstand ein Gambenquartett sowie ein kleines Kammerorchester mit alten Instrumenten. Einige konnten gekauft werden, andere wurden „zurückgebaut“, einige auch neu gebaut. Mit zum Beispiel dem Flötisten Gustav Scheck waren nun auch Blasinstrumente am Institut.
Wie kam August Wenzinger zum Dirigieren? Nach dem Krieg wurde die Konzertgruppe ausgebaut, ein Kammerorchester mit Streichern und Bläsern gebildet, und Wenzinger, der als Solocellist im Orchester bereits viel Anschauungsunterricht genossen hatte – wobei er „am meisten aus den Fehlern der Dirigenten“ lernte –, übernahm das Dirigieren. Ab Ende der 1940er Jahre (ein Einschnitt war das Bach-Jahr 1950) begann Wenzingers Ensemble im Auftrag der DGG eine größere Plattenproduktion mit zum Beispiel Bachs Brandenburgischen Konzerten und Komponisten wie Händel und Telemann.
Pioniertat mit Monteverdis Orfeo
August Wenzinger hat nun mehr und mehr dirigiert und trug mit bei zu einem ersten Aufschwung der Alten Musik. Aus Hitzacker kam die Anfrage, für die Sommerlichen Musiktage Monteverdis „Orfeo“ einzurichten und zu dirigieren. 1955 entstand auch ein Live-Mitschnitt dieser Aufführung. Die Aufnahme erschien bei der Archiv-Produktion als Schallplatte: eine Weltpremiere, und das circa zwei Jahrzehnte vor der Monteverdi-Inszenierungsserie unter Nikolaus Harnoncourt in Zürich, die den „Durchbruch“, die endgültige Wiederentdeckung des italienischen Neuerers bedeutete.
Für einen weiten Horizont
Bereits in dem Gespräch im Jahr 1990 bemerkt der Interviewer Hans-Heinrich Raab einen boomenden Markt für die Alte Musik mit einer wachsenden Zahl von Ensembles und Aufnahmen. Wie sehe, fragt Raab, August Wenzinger als Pionier diesen Trend? Dieser antwortet, er sei immer bestrebt gewesen, die „europäische Musik als Ganzes zu sehen, vom Mittelalter bis zur neusten Zeit.“ Die Spezialisierung auf bestimmte Gebiete sei eine Verengung des Horizonts. Andererseits sei die heutige zeitgenössische Musik für Viele nicht verständlich. Wenzinger hält auch nichts von einer Spezialisierung auf wenige Komponisten wie Bach, Händel, Mozart. Er befürwortet einen „großen Horizont“, „es fehlt mir sehr die Übersicht.“ Auch die Moden der Aufführungspraxis störten ihn.
Einen eigenen weiten Horizont bewies Wenzinger im Jahr der Aufnahme dieses Interviews durch die Veröffentlichung einer CD mit Musik des Spät-Mittelalters – mit Gesprächspartner Raab war auch davon die Rede. Und auch mit der Musik seiner Gegenwart setzte sich der Schweizer Musiker auseinander: Im Abstand von mehreren Jahrzehnten erzählt der 1948 geborene Komponist Wolfgang-Andreas Schultz für diese Sendung von seiner Zusammenarbeit mit August Wenzinger, der 1979 der Uraufführungsdirigent von Schultz’ Konzert für Viola da Gamba und Orchester war. Der Komponist erinnert sich an eine sorgfältige Einstudierung und Aufführung seines Werks durch dessen Interpreten. Schultz hält Wenzinger für unterschätzt, da dieser anders als der bekanntere Nikolaus Harnoncourt eher still war.
Ein Ausschnitt aus dem zeitgenössischen Gambenkonzert von Wolfgang-Andreas Schultz war in der Sendung zu hören. Außerdem unter anderem ein Teil einer Fantasie für Gambenensemble von Henry Purcell oder – na klar – des 1955er Orfeo-Livemitschnitts. Dazu kamen Teile von Gesprächen, die Hans-Heinrich Raab neben anderen mit weiteren prominenten Protagonisten der Alten Musik führte: Gustav Leonhardt (zu dessen Lehrern Wenzinger gehörte), Nikolaus und Alice Harnoncourt, die das Bild der frühen Alte-Musik-Szene trefflich ergänzen.