
Der 150. Geburtstag des russischen Komponisten Alexander Glasunow am 10. August blieb im Vergleich zu anderen Komponistenjubiläen in diesem Jahr (bisher etwa Skrjabin oder Carl Nielsen) vergleichsweise unbeachtet. Beginnend an dem runden Geburtstag selbst widmete SWR2 dem Jubilar eine fünfteilige „Musikstunde“. Ein paar Fakten daraus sind hier zusammengetragen.
Eine Frühbegabung
Alexander Glasunow, der am 10. August 1865 in Sankt Petersburg geboren wurde, hatte auch ein Talent als Zeichner. Die Musik aber beeindruckt ihn am tiefsten (siehe das Titelzitat der Sendereihe), und er beginnt zu komponieren. Der Frühbegabte wird von Rimskij-Korsakow unterrichtet, der dessen rasche Entwicklung betont. Rimskij führt Glasunow beim „Mächtigen Häuflein“ ein, auch genannt Gruppe der Fünf. Sie bestand aus Rimskij selbst, Milij Balakirew, Alexander Borodin, Cesar Cui und Modest Mussorgsky. Ihr Anliegen war eine russische Nationalmusik nach dem Vorbild Michail Glinkas. Sie grenzte sich von Tschaikowsky ab, den sie zu „westlich“ fand.
Seine erste Sinfonie schreibt Glasunow mit 16. Sie wird von Balakirew in Petersburg uraufgeführt und allgemein gefeiert. Außer Mendelssohn habe keiner so gut angefangen wie Glasunow, wird Tschaikowsky berichtet. Schon kurz danach mit 17 folgt Glasunows erstes Streichquartett. Der junge Komponist wird von den älteren Kollegen erneut aufs höchste gelobt (Borodin: „ein Talent von absoluter Einzigartigkeit“), tiefe Gedanken werden ihm attestiert.
Bald setzt sich ein Mäzen, der Holzgroßhändler Belajeff, für Glasunow und die russische Musik ein. Noch während der Schulzeit schreibt der jugendliche Komponist weitere Werke und lernt nach Klavier und Geige eine Reihe weiterer Instrumente, so dass er sogar verschiedene Blasinstrumente im Sinfonieorchester spielen kann. Das ist seiner Kunst der Instrumentation sehr förderlich.
Mit Belajeff reist Glasunow nach Weimar, wo er dem 73-jährigen Liszt begegnet. Über mehrere Stationen geht es weiter nach Spanien, das ihn begeistert; schließlich nach Bayreuth, wo er bei den Festspielen Wagners „Parsifal“ hört, der ihm (noch) nicht gefällt. Seine zweite Sinfonie ist Franz Liszt gewidmet.
Glasunow und Tschaikowsky
Tschaikowsky, dem „mächtigen Häuflein“ nicht russisch genug, interessiert sich sehr für Glasunow, der seinerseits keinen Grund sieht, sich von dem in Westeuropa Gefeierten zu distanzieren. Tschaikowsky studiert Glasunows erstes Streichquartett und anerkennt dessen Talent. In Petersburg kommt es zu einer Begegnung von Komponisten des „Häufleins“ mit Glasunow, Ljadow und auch Tschaikowsky. „Er brachte mit seinem Gespräch einen frischen Wind in unsere etwas verstaubte Atmosphäre“, wird sich Glasunow später erinnern. Zwischen ihm und Tschaikowsky beginnt ein fruchtbarer künstlerischer und menschlicher Austausch. In Moskau werden Werke der beiden gemeinsam aufgeführt. Tschaikowsky liebt die sinfonische Dichtung „Stenka Rasin“ des jüngeren Kollegen und trifft ihn in Petersburg. Er schreibt ihm aber auch: „In vieler Hinsicht sind Sie für mich ein Rätsel. Sie sind genial, doch irgendetwas hindert Sie, sich in Breite und Tiefe zu entwickeln …“. Es mag sein, dass Tschaikowsky eine unverwechselbare Eigenständigkeit an dem Jüngeren fehlt. Dieser widmet ihm seine dritte Sinfonie. Glasunow erlebt die Uraufführung von Tschaikowskys „Pathétique“ in Petersburg und sieht ihn noch vier Tage vor dessen plötzlichem Tod im Jahr 1893. Unter diesem Eindruck schreibt Glasunow sein viertes Streichquartett.
In der Nachfolge Tschaikowskys schreibt Glasunow Ballettmusik für Marius Petipa am Marinskij Theater Petersburg. „Raymonda“ ist bis heute am populärsten, daneben das Ballett „Les Sylphides“.
„Fürst Igor“ und internationaler Ruhm
Gemeinsam mit Rimskij-Korsakow vollendet Glasunow die als Fragment von Alexander Borodin hinterlassene Oper „Fürst Igor“. Beispielsweise ist deren Ouvertüre von Glasunow nach Borodins Klavierspiel aus dem Gedächtnis notiert und instrumentiert, also im Grunde eine Schöpfung Glasunows. Abgeschlossen ist die Arbeit 1888, 1890 wird „Fürst Igor“ uraufgeführt. „Diese Oper ist wirklich eine gemeinsame Schöpfung von Borodin, Rimskij-Korsakow und Glasunow“ bemerkt der Komponist Nikolaj Tscherepnin.
Glasunow beginnt auch zu dirigieren und hat sich bald in dieser Funktion einen ausgezeichneten Namen gemacht. Für die Weltausstellung 1889 in Paris wird Glasunow neben seinem Lehrer Rimskij als Dirigent russischer Musik eingeladen. Vom französischen Orchester ist er begeistert.
Bereits als Mittzwanziger wird Glasunow in Russland wie in Europa gefeiert und saugt die europäische Musik in sich auf. Alles fließt in seine eigene Musik ein, er liebt die musikalische Vielfalt. „Der Sinfoniker Glasunow entfaltet in seinen acht Sinfonien, den sinfonischen Dichtungen und den Solokonzerten sein kontrapunktisches Können, die Verwobenheit seiner Themen, die Stimmführung und Dichte des Orchestersatzes, seinen Sinn für Dramatik und epische Erzählweise, ebenso sein Bewusstsein für Tradition“, so Ulla Zierau, die Autorin dieser Musikstunden. Er wird „der letzte Klassiker der russischen Musik“ genannt.
Lehrer und Konservatoriumsdirektor
Glasunows Funktion als Lehrer und Direktor des Petersburger Konservatoriums ließ ihm über viele Jahre nicht viel Zeit zum Komponieren. Seine letzte, die achte Sinfonie schreibt er bereits mit 40.
Ans Konservatorium berufen wird Glasunow 1898. Er wird Kollege von Rimskij-Korsakow, der das Fach Komposition unterrichtet, beide arbeiten eng zusammen. Mit den revolutionären Unruhen des Jahres 1905 („Petersburger Blutsonntag“) wird es auch am Konservatorium turbulent: Die Studenten fordern Reformen und rufen zum Streik auf. Rimskij-Korsakow und Glasunow wollen vermitteln, der ältere wird entlassen, Glasunow und Ljadow reagieren darauf mit ihrer Kündigung. Die Leitung des Konservatoriums lenkt ein, als die prominenten Entlassenen die Gründung einer Nationalen Musikakademie planen. Nunmehr gibt es Reformen wie die weitgehende Autonomie des Konservatoriums. Glasunow wird dessen Direktor und setzt sich für weitere Reformen wie die Gründung einer Musikergewerkschaft und die Gleichberechtigung jüdischer Studenten ein.
Aus dem Jahr 1905 stammt auch das bekannteste Werk Glasunows, das Violinkonzert in a-Moll, das von seinem Lehrerkollegen Leopold Auer uraufgeführt wird. Zu einem großen Problem in dieser Zeit wird für den Lehrer und Komponisten seine Trunksucht. Als Grund für die wenigen Kompositionen während seiner Konservatoriumszeit wird aber auch vermutet, Glasunow habe sich „auskomponiert“, er sei als Tonschöpfer nicht mehr zeitgemäß gewesen. Seiner Wertschätzung – auch im Ausland – tut dies keinen Abbruch, Ehrendoktorwürden der Universitäten Cambridge und Oxford zeugen davon.
Glasunows prominenteste Schüler sind Igor Strawinsky, Sergej Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch. Letzterer äußerte sich hochachtungsvoll über seinen Lehrer. Mit Prokofjew gibt es musikalische Differenzen, auch der Schüler kann mit dem „akademischen Stil“ (Ulla Zierau) des Lehrers wenig anfangen.
Eheleben und Exil
Erst mit 57 heiratet Alexander Glasunow. Seine Ehefrau wird die Malerin Olga Nikolajewna Gawrilowa, die aus einer früheren Ehe eine Tochter mit in die neue Verbindung bringt: Elena, eine Pianistin.
In seinem späteren Komponistenleben schreibt Glasunow verstärkt Solokonzerte – neben dem Violin- zwei Klavierkonzerte, ein von Pau Casals uraufgeführtes Cellokonzert sowie – ungewöhnlich – ein Saxofonkonzert, das Sigurd Raschèr von ihm erbeten hatte.
In der jungen Sowjetunion werden die Lebens- und Arbeitsbedingungen für den Künstler und Konservatoriumsdirektor schwieriger. Als Glasunow gemeinsam mit seiner Frau 1928 eine Einladung als Jurymitglied zum Franz-Schubert-Kompositionswettbewerb in Wien annimmt – Anlass ist Schuberts 100. Todestag –, kehren beide nicht mehr in die Sowjetunion zurück. Nach weiteren Stationen wird Paris die Stadt des endgültigen Exils, hier sieht er alte Bekannte wie Sergej Rachmaninow wieder. Offiziell ist Glasunow beurlaubt, er bleibt sogar noch eine Weile Direktor des Konservatoriums der Stadt, die nunmehr Leningrad heißt.
Während einer Konzertreise in Nordamerika wird Glasunow gefeiert, er tritt mit dem jungen Horowitz auf und entdeckt sein Gefallen am Jazz. Resultat ist ein Saxofonquartett, das zwar nicht nach Jazz klingt, über das aber der deutsch-schwedische Saxofonist Sigurd Raschèr den Komponisten kennenlernt und ihm vorspielt. Glasunow ist so angetan, dass Raschèr nicht lange um ein Konzert für sein Instrument bitten muss. 1934 wird es uraufgeführt.
In diesen, den letzten Lebensjahren Glasunows, klingt die musikalische Avantgarde längst ganz anders. Er bemüht sich, sie zu verstehen, und auch seinen Schüler Schostakowitsch nimmt er in Schutz gegen die Anfeindungen in Folge von dessen Oper „Lady Macbeth von Mzensk“: „An die zeitgenössische Musik gewöhne ich mich allmählich. Ich kenne sie von Schönberg, Berg und Webern. Im Vergleich mit ihnen ist Schostakowitsch sehr gemäßigt und vor allem, er ist ausdrucksvoll und dramatisch. Soll er doch weiter in seinem Stil komponieren. Warum muss er ihn ändern nach der Laune von Leuten, die von Musik überhaupt keine Ahnung haben. Das ist unerträglich.“
Der bereits kränkelnde Glasunow stirbt 70-jährig im Jahr 1936 in Neuilly-sur-Seine bei Paris, wo er auch begraben wird. Die sterblichen Überreste werden 1972 im Alexander-Newski-Kloster seiner Heimatstadt Sankt Petersburg (damals Leningrad) beigesetzt.