SRF 2 Kultur, 7. März 2016

Ein negiertes Lebenswerk

Zum Tod von Nikolaus Harnoncourt: Wiederholung einer Gesprächssendung vom Dezember 2014
Nikolaus Harnoncourt (Foto: Marco Borggreve)
Nikolaus Harnoncourt (Foto: Marco Borggreve)

Der Tod des Jahrhundertmusikers Nikolaus Harnoncourt am 5. März hatte zahlreiche Programmänderungen in den Kultursendern zur Folge. SRF 2 Kultur wiederholte eine Sendung der Reihe Parlando, die aus Anlass von Harnoncourts 85. Geburtstag im Dezember 2014 erstmals zu hören war. Dazu besuchten Gabriela Kaegi und Roland Wächter das Ehepaar Nikolaus und Alice Harnoncourt in ihrem alten, „bisschen aus der Zeit gefallenen“ (Kaegi) Haus im Salzkammergut. Als die beiden Musiker es vor über 40 Jahren entdeckten, sollte es wegen der Feuchte eigentlich abgerissen werden. Das aber war für Nikolaus, wie er bemerkt, ein Grund aufzujubeln, weil Trockenheit dem Holz und also den Instrumenten schade. Im Haus gebe es unter anderem Raum für Proben. Zu diesem Zweck kam das Musikerensemble, mit dem Harnoncourt gerade eine Aufführung einstudierte, im Lauf der Jahrzehnte bei ihm daheim immer wieder zusammen.

Mozarts instrumentales Oratorium

Ein Gespräch mit Nikolaus Harnoncourt im Jahr 2014 kommt nicht an dessen damals offenbarter Erkenntnis zu den drei letzten Sinfonien von Mozart vorbei – die der Dirigent nach langen Überlegungen schließlich als ein einziges Werk betrachtete und auch aufführte und einspielte. Dass bereits früher vermutet wurde, es gebe zwischen KV 543, 550 und 551 einen Zusammenhang, das seien nicht einfach nur drei Einzelwerke, rekapituliert Roland Wächter. Harnoncourt seinerseits „habe schon immer das Gefühl gehabt, da ist mehr dahinter“. Es müsse beim Komponisten einen „Gärungsprozeß“ gegeben haben, das könne Mozart nicht in 6 Wochen [im Sommer 1788, wie es in den Handbüchern steht,] geschrieben haben. 
Es gibt Motive, die in allen 3 Sinfonien vorkommen. In einem kleinen Buch habe auch der Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülke diese Motive „Urbausteine“ genannt. Harnoncourt hat Kontakt mit ihm aufgenommen, versicherte Gülke, dies sei von seiner Seite kein Plagiat, er wüsste aber nicht mehr, was original Gülke und was von ihm – Harnoncourt – sei. 
Immer mehr sei ihm aufgefallen (Musikbeispiele sind im Audio der Sendung nachhörbar): Nur die Es-Dur-Sinfonie habe mit ihrer Intrada einen richtigen Anfang, nur C-Dur ein „echtes großes Finale“. Das monothematische Es-Dur-Finale ende, „als würde es gegen die Wand fahren. Es sind zwei Figuren, mit denen man nicht Schluss machen kann.“ Es löse sich in Staub auf. Aus der Wolke, die daraus entsteht, „wabert plötzlich das g-Moll herauf.“ Im Finale der g-Moll-Sinfonie werde das Melodische, eine „klassische Bouree“, zerstört durch Dissonanzakkorde und Pausen danach, dies „kenne ich in der sinfonischen Literatur überhaupt nicht“. Anschließend „geht er [Mozart] durch 12 Quinten abwärts […] über Tonarten hinweg, die es gar nicht gab damals“, zerstöre hintereinander Melodie und Harmonie, „die beiden Grundpfeiler der abendländischen Musik“. – „Die Harmonie ist weg. Was soll jetzt geschehen?“ Die Trias schreie nach einer Erholungspause. Der Hörer müsse sich fragen, kann man aus diesen Trümmern noch etwas bauen? Bei der C-Dur-Sinfonie passiere genau das. 
Der von Harnoncourt so ausgedrückte eigene Gärungsprozeß bei ihm, der fast 60 Jahre gedauert habe, fand einen Abschluss, die Hypothese wurde zur Gewissheit: Mozart habe eine Gattung geschrieben, „die es nicht gibt“, ein „instrumentales Oratorium“. Der „transzendentale Bezug“ sei nicht zu überhören. Die Aufführungen des sinfonischen Dreigestirns mit dem Concentus Musicus in Graz und Wien sollen „wirklich unter die Haut gegangen“ sein, beim Publikum und den Ausführenden.

Das „Lebenswerk“

Nikolaus Harnoncourt hat 2014 wieder einmal einen Preis bekommen: den ECHO-Klassik-Spezialpreis für das Lebenswerk. Was betrachtet der Alte-Musik-Pionier selbst als sein Lebenswerk, wird er von Roland Wächter gefragt? Ein Thema, das dem Hausherrn weniger behagt. Mit der Bemerkung, Preise für sein Lebenswerk habe er schon mehrmals bekommen, fragt er, ob das heiße, er solle sein Lebenswerk jetzt abschließen? „Ich hab kein besonderes Lebenswerk.“ Er habe von Beginn an das Höchste erreichen wollen mit dem Wissen, das Höchste, ein Ziel, das man sich stelle, könne man nicht erreichen, man könne dem nur nahekommen. Er sei im alten Sinne des Wortes „berufstätig“, im Sinne von Berufung, Vokation – jeden Tag. Roland Wächter beharrt noch und schlägt zumindest als Teil des Lebenswerks die Neubewertung der Bachkantaten vor. „Was von mir neu ist, das bemerken die anderen“, erwidert Harnoncourt. „Diesen Impuls, etwas Bleibendes zu hinterlassen, kenne ich nicht.“

Der „hochmusikalische“ Lang Lang

Dass Nikolaus Harnoncourt ein Loblied auf den Pianisten Lang Lang singt, mit dem er zusammen gespielt und Aufnahmen gemacht hat, mag erstaunen. Für ihn ist der Tastenstar aus China ein „unglaublich musikalischer Mensch“. Lang Lang war früher schon einmal aus Interesse bei den Harnoncourts zu Hause und hat dabei festgestellt, er könne nicht auf den alten Klavieren spielen, er würde jedes kaputt machen. Ihm fehle bei seiner „reichen Gestaltungspalette“ die Zartheit. Beide haben gemeinsam Beethoven gespielt. Vorher wollte Harnoncourt mit dem Solisten Lang Lang sprechen, daraus wurden dann keine fünf Minuten, sondern drei Stunden. Der Pianist habe alles angenommen und umgesetzt, was der Senior ihm sagte. So habe dieser gemerkt, Lang Lang sei „ein hochmusikalischer Mensch“. Harnoncourt vergleicht ihre gemeinsame Arbeit mit der mit Friedrich Gulda. 
Bei dem Plan, Mozart aufzunehmen, habe Lang Lang gesagt, nur mit Nikolaus Harnoncourt. „Es war eine wahnsinnig interessante Zusammenarbeit, so wie mit Gulda.“ Beispielsweise sage ihm fast jeder Pianist bei Mozart, das Klavier sei zu leise, wenn so gespielt wird, wie Harnoncourt es sage: es müsse ins Orchester eingebettet sein. Lang Lang habe das akzeptiert. 

Weitere Themen dieses Gesprächs etwa sind das Lachen, Nikolaus’ Nichtverhältnis zum Geld und seine „legendäre“ Werkstatt, in die die Besucher schließlich hinabsteigen dürfen. Schon zu Beginn ihres Aufenthalts bemerkte Nikolaus Harnoncourt gegenüber seinen Schweizer Gästen, dass er und Alice nach 40 Jahren gemeinsamen Lebens in ihrem Haus auch hofften, dort zu sterben. Damit ist er nun vorangegangen.

Zum Tod von Nikolaus Harnoncourt

Erstsendung 7.12.2014

SRF 2 Kultur, Reihe: Extra
7. März 2016, 15.03 Uhr, 57 min.