Ö1, 11. Januar 2016

Das mysteriöse Verschwinden der Queen of Crime

Was geschah mit Agatha Christie während der elf Tage im Dezember 1926?

Ihr Lotse durch diese Sendung ist Jared Cade. Der 1962 geborene Brite ist seit seiner Kindheit begeisterter Agatha-Christie-Leser. Nachdem er alle ihre Bücher verschlungen hatte, wollte er mehr über die Autorin und ihr Leben wissen. Die elf Tage, die sie im Jahr 1926 vermisst war, blieben für ihn mysteriös. Keine bis dahin veröffentlichte Biographie konnte die Gründe für ihr Verschwinden schlüssig erklären. Jared Cade begann seinerseits eine akribische Recherche, traf auch Nachkommen von Agatha Christie und veröffentlichte als Ergebnis seiner Untersuchungen 1998 ein eigenes Buch über jene elf Tage, seine Biographie der Queen of Crime. Erst Jared Cade gelang es, das Rätsel zu lösen.

Ein verlassener Wagen

Am frühen Morgen des 4. Dezember 1926, einem Samstag, wird in der Nähe von Newlands Corner, einem Ausflugsziel in der Grafschaft Surrey in Südengland, ein verlassener Wagen der Marke Morris Cowley gefunden. In dem Auto befindet sich ein auf den Namen Agatha Christie ausgestellter Führerschein, außerdem Kleidung von ihr. Das erscheint bereits überaus rätselhaft, kommentiert Jared Cade in der Sendung – „like a scene from one of Agatha Christie’s murder mysteries.“ Die damals 36-jährige Autorin war noch keine Berühmtheit. Ein halbes Jahr zuvor war ihr Roman „Alibi“ (The Murder of Roger Ackroyd) erschienen, der heute zu ihren gelungensten gerechnet wird. 
Zuständig für den Fall ist die Polizeistation von Surrey. Die Beamten informieren Agathas Ehemann Archie, der das Wochenende bei dem mit den Christies befreundeten Ehepaar Madge und Sam James in Godalming in Surrey verbrachte, über das Verschwinden seiner Frau. Es wird durchaus erwogen, dass Agatha tot sein könnte, die Polizei beginnt eine gründliche Suche und durchkämmt das Gebiet von Newlands Corner. Auch die Kollegen der Grafschaft Berkshire, in der die Christies zusammen mit Tochter Rosalind wohnen, beteiligen sich an der Suche7.

Presse schaltet sich ein

Am Montag, dem 6. Dezember, greift die Presse den Fall auf, der genug Zutaten für eine Sensation aufweist. Es stellt sich heraus, dass Agatha zuletzt zwei Briefe geschrieben hatte: einen an ihre Sekretärin, in dem diese aufgefordert wird, Agathas geplantes Wochenende in Yorkshire in Nordengland abzusagen. Diesen Brief hat die Adressatin bereits erhalten. Der andere ging an ihren Schwager, Archies Bruder Campbell Christie. Dieses Schreiben datierte laut Poststempel vom 4. Dezember: dem Tag des Auffindens von Agathas Wagen. In letzterem Brief teilt die Schriftstellerin mit, sie wolle das Wochenende in Yorkshire verbringen, allerdings ohne genaue Angabe, wo. 
„Very suspicious“, merkt Jared Cade dazu an. Der Verdacht erhärtet sich, dass die Ehe der Christies nicht mehr intakt ist. Führt das Paar getrennte Leben? Tatsächlich war Archie nur vordergründig an jenem Wochenende beim Ehepaar James. Seine wirkliche Absicht war, seine Geliebte Nancy Neele zu sehen, die auch im Haus war. 
Die Presse sucht inzwischen Zeugen, die Agatha Christie möglicherweise gesehen haben. Am Dienstag, dem 7. Dezember, dominiert ihr Verschwinden bereits landesweit die Presse. Die Zeitung Daily News bietet 100 Pfund Belohnung für Hinweise zu ihrem Auffinden. Fragen, die man sich stellt, sind zum Beispiel, ob sie nach einem Autounfall an Gedächtnisverlust leidet. Was hatte sie in Newlands Corner zu suchen? Wurde sie Opfer eines Verbrechens? Archie sagt, seine Frau sei wegen des Todes ihrer Mutter (diese war im April des gleichen Jahres gestorben), der sie sehr nahe gestanden hatte, und aufgrund Überarbeitung in keiner guten Verfassung gewesen. 
Reporter suchen, nachdem sie vom Brief an Agathas Schwager erfahren, nun auch in den Hotels von Yorkshire, dort aber ist niemand mit ihrem Namen abgestiegen.

Ehemann unter Verdacht

Ganz England, so Jared Cade, war plötzlich voll von Amateurdetektiven. Archie sieht sich, auch von der Presse, mit Mordvorwürfen konfrontiert. Erst recht, nachdem die Journalisten erfahren, dass er eine Geliebte hat.
Die Suche in Newlands Corner, einem Gebiet von mehr als 100 Quadratkilometern Größe, intensiviert sich. Archie, in die Defensive gedrängt, gibt der Zeitung Daily Mail ein Interview, das am Freitag, dem 10. Dezember erscheint. Darin sagt der Ehemann, er halte ein inszeniertes Verschwinden für denkbar, weil Agatha mit ihrer Schwester darüber gesprochen hätte – um Material für einen neuen Roman zu sammeln. Andere Möglichkeiten seien Gedächtnisverlust oder Selbstmord. Archie erinnert auch an Agathas Verfassung, wie er es der Polizei gegenüber angegeben hatte. Der Verdacht gegen den Ehemann erhärtet sich, als die Polizei erfährt, dass Agatha auch einen Brief an Archie geschrieben hatte, den er verbrannte. Bei einem weiteren Verhör behauptet er, dieser Brief sei, da vorher geschrieben, für Agathas Verschwinden belanglos. 
Nunmehr äußern sich auch prominente Krimiautoren zu dem Fall. Neben Dorothy L. Sayers (bekannt für ihre Figur Lord Peter Wimsey) ist es Edgar Wallace, der gegenüber der Daily Mail vermutet, Agatha Christie wolle es mit ihrem Verschwinden jemandem heimzahlen, der sie verletzt habe. Sie habe absichtlich die Atmosphäre eines Selbstmords kreiert. Bei Gedächtnisverlust wäre sie längst gefunden worden. Die Polizei, die bisher vergeblich gesucht hatte, fordert nun die Bevölkerung auf, sich in möglichst großer Zahl an der Suche nach Agatha Christie zu beteiligen.

Great Sunday Hunt

Und so kommt es am Sonntag, dem 12. Dezember, zur „Great Sunday Hunt“ nach Agatha Christie mit ganzen Menschenmassen, die die Grafschaft Surrey durchkämmen – ohne Ergebnis. Die Zeitungen schätzen später die Beteiligung auf 2000 bis 15.000, von denen die meisten aber Schaulustige waren. 
Am gleichen Tag melden sich im Kurort Harrogate, Yorkshire, zwei Musiker einer Hotelband: Im „Swan Hydropathic Hotel“ befinde sich eine Mrs Teresa Neele, die der Gesuchten sehr ähnlich sehe. 
Dem Deputy Chief Constable aus Surrey wird am Montag, dem 13. Dezember, von Kollegen aus Harrogate gemeldet, Agatha Christie sei wahrscheinlich gefunden. In Surrey geht man darauf zunächst nicht ein. Daraufhin bitten am folgenden Tag die Beamten aus Yorkshire darum, dass Archie sich nach Harrogate begeben möge, um in besagtem Hotel die mutmaßliche Agatha Christie in Augenschein zu nehmen und eventuell zu identifizieren. Der Ehemann macht sich verfolgt von der Presse auf den Weg. Archie, der noch am selben Abend in Harrogate eintrifft, erblickt unbemerkt „Mrs Neele“, die am 4. Dezember abends in dem Hotel angekommen war, und identifiziert sie als seine Ehefrau. Von Archie angesprochen, ist Agatha gefasst. Gegenüber der Polizei behauptet sie, an Amnesie zu leiden. Während eines klärenden Gesprächs des Ehepaars beim Abendessen finden sich mehr und mehr Pressevertreter ein. Archie kontaktiert Madge und James Watts, Agathas Schwester und Schwager. Diese beiden sollen seine Frau zu ihrem Familienanwesen Abney Hall bringen.
Am folgenden Tag, dem 15. Dezember, wird das Hotel in Harrogate von der Presse belagert. Agatha und Archie können es unauffällig verlassen, legen der Presse eine falsche Spur, werden von dieser aber später am Bahnhof von Manchester gestellt. Es bleibt bei der Version des Gedächtnisverlusts, Agatha aber macht einen amüsierten Eindruck. Die Familie schirmt sich in Abney Hall ab.

Des Rätsels Lösung

Was also hat sich seit dem 3. Dezember zugetragen? Agatha hat ihr Verschwinden geplant und inszeniert, weil sie über das bevorstehende Ende ihrer Ehe sehr aufgebracht war. Ihre Komplizin war Nan Watts, die jüngere Schwester ihres Schwagers James, mit der sie schon seit Kinderzeiten befreundet war. Mit ihrem „Verschwinden“ wollte Agatha das gemeinsame Wochenende von Archie und seiner Geliebten Nancy „stören“. Sie rechnete damit, drei bis vier Tage verschwunden zu sein, die Angelegenheit lief dann durch die Einschaltung der Presse, die den Fall aufbauschte, aus dem Ruder. 
Nach dem Verlassen ihres Wagens am Abend des 3. Dezember fuhr Agatha mit dem Zug nach London zu Nan Watts. Ausgerüstet mit neuer Kleidung machte sie sich am nächsten Tag nach Harrogate in Yorkshire auf. Über Konsequenzen ihres Handelns hatten Nan und Agatha nicht nachgedacht. „Schoolgirlish thing“ nennt dies Jared Cade in der Sendung. Immerhin war vor ihm Agathas Kollege Edgar Wallace – vergleiche oben – auf der richtigen Spur. 
In der Öffentlichkeit wird nun gemutmaßt, Agatha habe ihr Verschwinden aus Karrieregründen inszeniert. Vorwürfe werden laut, sie habe ein dummes Spiel mit der Polizei getrieben, um den Verkauf ihrer Bücher anzukurbeln. In Zukunft meidet Agatha jeden Kontakt mit der Presse. Bis heute sind die „Eleven missing days“ ein rotes Tuch für die Familie der Queen of Crime.

Jared Cade erhielt die entscheidenden Informationen von Nan Watts’ Tochter Judith Gardner. Agathas Enkelsohn Matthew Pritchard war nicht auskunftsbereit. Das Buch des Christie-Detektivs liegt bislang nicht auf deutsch vor. Erstaunlich bei der Prominenz dieser Autorin.

Eleven Missing Days

Das rätselhafte Verschwinden der Agatha Christie 1926

Feature von Jule Reuter
Mit Paul Matic, Andrea Eckert, Florentin Kroll, Ursula Scheidle und Nina Strehlein
ORF 2013
Erstsendung: 28.10.2013

Ö1, Reihe: Tonspuren
11. Januar 2016, 21.00 Uhr, 40 min.