SWR2, 4. November 2016

Aufarbeitung nach 70 Jahren

Die Rolle der Psychiatrie im NS-Staat

Der Psychiatrieprofessor Frank Schneider, damals Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN; 2012 hat sie ihren Namen erweitert), in einer Gedenkveranstaltung im Jahr 2010: „Psychiater haben in der Zeit des Nationalsozialismus Menschen verachtet, die ihnen anvertrauten Patientinnen und Patienten in ihrem Vertrauen getäuscht und belogen, die Angehörigen hingehalten, Patienten zwangssterilisieren und töten lassen und auch selber getötet. An Patienten wurde nicht zu rechtfertigende Forschung betrieben, Forschung, die Patienten schädigte oder gar tötete.“

„Befehlsnotstand“?

Es dauerte lange 70 Jahre und mehrere Generationswechsel, bis die Psychiatrie zur Aufarbeitung dieser dunklen Vergangenheit bereit war und sich ihrer Verantwortung stellte.  2010 beauftragte die DGPPN den Historiker Hans-Walter Schmuhl, „die Rolle der Psychiater an den Zwangssterilisationen und Krankenmorden systematisch zu erforschen. Die Psychiater haben nach dem Krieg jede Schuld von sich gewiesen und beriefen sich auf den Befehlsnotstand“, so die Autorin dieser Sendung Eva Schindele. Schmuhl veröffentlichte 2016 die Ergebnisse seiner Forschung in dem Buch „Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Nationalsozialismus“. Er fand heraus, dass die verantwortlichen Psychiater durchaus nicht auf Druck des NS-Regimes gehandelt hätten. Vielmehr habe das NS-System Wissenschaftlern Handlungsspielräume eröffnet. Die „Euthanasie“ (ein Gedanke schon aus den 1910er und -20er Jahren) wurde breit diskutiert, wie das 1920 erschienene Buch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von Alfred Hoche und Karl Binding zeigte. Darin wurde vertreten, dass unter anderem die Tötung „unheilbar Blödsinniger“ als „Gnadentod“ legitim sei.

Eugenik

Hans-Walter Schmuhl erläutert in der Sendung, wie in Anlehnung an die Eugeniker, nach denen sich nur die Leistungsstarken vermehren sollten, mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom Juli 1933 ein Programm zur Massensterilisierung begonnen wurde. Auf der Eugenik schließlich baute die „Rassenhygiene“ der Nationalsozialisten auf.
Schmuhl: „Es war weitgehend Konsens, dass psychische Erkrankungen und auch geistige Behinderungen zu einem hohen Maße erblich bedingt seien und dass sie von Generation zu Generation weiter getragen würden, so dass es aus der Sicht der Psychiater Sinn machte, parallel zu den gegebenen Behandlungsmöglichkeiten eine eugenische Sterilisierung durchzuführen“. Etwa 400.000 Menschen wurden von 1933 bis 1945 zwangssterilisiert. Viele starben an dem Eingriff oder den Folgen. Für die Umsetzung des Gesetzes spielten die Psychialter eine Schlüsselrolle, sie hielten aber auch „die eugenisch indizierte Sterilisierung“ (Schmuhl) für sinnvoll und nützlich. Über die Sterilisation entschied ein „Erbgesundheitsgericht“. Opfer wurden geistig Behinderte, psychisch Kranke, Menschen, die man für asozial hielt oder auch Taubstumme und Blinde. Ob ein Makel oder eine Abweichung von der Norm vererbbar war oder nicht, wurde bald nicht mehr gefragt. Eva Schindele: „Die Zwangssterilisationen bereiteten den Boden für die gezielten Krankenmorde.“ Dabei galt strenge Geheimhaltung. 

Aktion T4

Fünfzig Ärzte, so Historiker Schmuhl, die den Massenmord auch mit gesteuert haben, arbeiteten eng mit der Zentrale der Aktion T4 in der Berliner Tiergartenstr. 4 – nach der sie benannt ist – zusammen. Unter anderem an Schizophrenie, Epilepsie oder „Schwachsinn“ leidende Patienten mussten gemeldet werden. Dafür gab es Meldebögen. Ärzte entschieden ohne Ansehen der Patienten auch über Tötung. In der ersten Phase wurden die Patienten in sechs Tötungsanstalten – Grafeneck, Brandenburg, Pirna-Sonnenstein, Hartheim (Österreich), Hadamar und Bernburg-Saale – deportiert. Nicht alle Ärzte haben sich am Ausfüllen der Meldebögen beteiligt. Nach Protesten auch aus der Katholischen Kirche ging das Morden dezentral weiter. Man tötete die Opfer, so Eva Schindele, „direkt in den Nervenheilanstalten durch Giftspritzen oder fehlende medikamentöse Behandlung. Oder sie starben an Vernachlässigung und Nahrungsentzug. Viele waren an diesem Tötungssystem beteiligt: Pfleger, Krankenschwestern, Verwaltungsangestellte, Ärzte.“ Entscheidend für die Selektion war die Arbeitsfähigkeit.

Ein Opfer: Jacob Goldschweer

Die Kulturwissenschaftlerin Gerda Engelbracht, die die Geschichte der Nervenheilanstalt in Bremen erforscht, nennt in der Sendung als Beispiel den 1892 geborenen Werkzeugschlosser Jacob Goldschweer, der mit Angst- und Verwirrtheitszuständen 1943 in die Bremer Nervenklinik eingewiesen wurde. Sein Gesundheitszustand war zuvor schwankend. Er wurde in die Anstalt Meseritz-Obrawalde (heute Polen) verlegt, wo er trotz aller Bemühungen – auch seiner Familie – ihn herauszuholen 1944 starb – die Todesursache in seiner Krankenakte ist vermutlich fingiert. Ein nach dem Krieg von Goldschweers Frau gestellter Antrag auf Wiedergutmachung wurde, so Engelbracht, abgelehnt – genauso wie andere Anträge, „weil die Psychiatriepatienten nicht als politisch oder religiös Verfolgte galten.“ Somit wurde negiert, dass Goldschweer Opfer eines Verbrechens wurde. Dazu kommt, dass Wiedergutmachungsanträge zum Teil von denselben Psychiatern bearbeitet wurden, die sich in der Nazizeit mit Schuld beladen hatten. Vor einem Bundestagsausschuss betonte der Genetiker Hans Nachtsheim, ein Eugeniker, noch 1961, dass das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ ein „Erbgesundheitsgesetz“ war.

Keine Aufarbeitung nach 1945

Der Psychiater Michael von Cranach unterstreicht in der Sendung, dass es nach 1945 weder Zäsur noch Aufarbeitung gegeben habe. „Die ganzen Schwestern, Pfleger, Ärzte und Oberärzte, die das alles gemacht haben, die blieben in den Kliniken.“ Bestraft wurden nur wenige wie Hitlers Begleitarzt und Euthanasiebeauftragter Karl Brandt oder der Leiter der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein Paul Nitsche, die zum Tode verurteilt wurden. Eva Schindele: „Den meisten gelingt nach dem Krieg schnell der Wiedereinstieg. Ihre Sicht auf den Menschen prägt bis in die späten 60er-Jahre die Psychiatrie in Deutschland und verhindert lange eine längst fällige Psychiatriereform.“ Der T4-Gutachter Werner Villinger wurde gar Ordinarius und Rektor der Universität Marburg und Präsident der psychiatrischen Fachgesellschaft. Andere wie Alexander Mitscherlich, der als junger Psychiater den Nürnberger Ärzteprozess dokumentierte, wurden als „Nestbeschmutzer“ isoliert. Der Lehrer Martin Nagel, der als Opfer die Anstalt Meseritz-Obrawalde überlebte – er galt als minderwertig und querulantisch –, blieb in der Nachkriegs-„Demokratie“ stigmatisiert und wurde nicht entschädigt. Der ehemalige Direktor der Bremer Nervenheilanstalt Walther Kaldewey dagegen, der für Nagels Verlegung in die Anstalt gesorgt hatte, wurde voll rehabilitiert und konnte in Bremen weiter als Arzt praktizieren.

Zitate in diesem Text nach dem Manuskript.

NS-Euthanasie

Die Schuld der Psychiater

Von Eva Schindele
Regie: Günter Maurer
SWR 2016

SWR2, Reihe: Wissen
4. November 2016, 8.30 Uhr, 28 min.