Ein sich ausweitender Niedriglohn – in der Privatwirtschaft wie im Staatsdienst – über die traditionellen Niedriglohnbranchen hinaus, ein geläuterter ehemaliger Bundesminister, die Wirkungslosigkeit staatlichen Handelns gegen Vergehen – oder die Attacken in Richtung Beschäftigtenvertretung: Ein aktuelles Feature trägt zusammen, wie es steht um die Arbeitswelt in Deutschland anno 2016 – und wie das alles so kam seit etwa der Jahrhundertwende.
Der Niedriglohn ist auch bei Hochschulabsolventen angekommen: Sandra Herbst, studierte Sozialpädagogin, als Erzieherin in einer Kölner Grundschule (Offene Ganztagsschule) für die Nachmittagsbetreuung beschäftigt, spricht für dieses Feature ins Mikro: Bei 25 vom Arbeitgeber, einem von der Stadt Köln beauftragten privaten Verein, anerkannten Wochenstunden verdient sie monatlich 1000 Euro netto und ist damit auf einen Zweitjob angewiesen. Dabei reicht der Stundenumfang in der Schule nicht aus, um die nötige, erwartete Arbeit zu leisten: Vor- und Nachbereitung kommen hinzu, ebenso zum Beispiel Elterngespräche. Ihre Vorbereitung fällt hauptsächlich in die Freizeit. Bei im wesentlichen mit einer Lehrerin vergleichbaren Anforderungen verdient sie höchstens die Hälfte, Gehaltserhöhung gab es seit Jahren nicht. Sandra Herbst nennt das Auslagerung von staatlicher Verantwortung.
Drei Komponenten des deutschen Prekariats
Arbeitsverträge wie der ihre sind zudem häufig befristet. 60 Prozent der Neueinstellungen im Öffentlichen Dienst sind befristet, in der Privatwirtschaft sind es 40 Prozent. „Fast vierzig Prozent der abhängig Beschäftigten in Deutschland haben heute ,atypische‘ Verträge“, so Albrecht Kieser, der Autor dieses Features, sie arbeiten weder in Vollzeit noch unbefristet und oft nicht nach Tarifvertrag. Wer nicht mehr nach Tarifvertrag arbeitet, hat seit 2000 preisbereinigt 17 Prozent Verlust erlitten, weiß ver.di-Sekretär Michael Schlecht, für Die Linke im Bundestag, einer der für dieses Feature befragten Sachverständigen. In ganzen Branchen und gerade in klassischen Niedriglohnbereichen wie Einzelhandel, Transport- oder Reinigungsgewerbe wurde das Lohnniveau gedrückt, so die Gewerkschaften. Arm trotz Arbeit: „13 Millionen Menschen leben in Deutschland mittlerweile unter der Armutsgrenze“ (Albrecht Kieser).
Die ersten massiven Deregulierungen im deutschen Arbeitsrecht, erläutert Michael Schlecht, gab es schon unter CDU-Arbeitsminister Norbert Blüm Ende der 1980er-Jahre mit der Ausweitung der Möglichkeit befristeter Arbeitsverhältnisse. Einen Schub gab es dann unter Rot-Grün ab 1998 mit dem „finalen Akt“ (Schlecht) Agenda 2010. Im Wahlkampf 1998 hatten SPD und Grüne versprochen, die von Blüm initiierte Befristungsregelung zurückzunehmen – das Gegenteil passierte. Befristungen wurden von der Ausnahme zur Regel. Norbert Blüm, so im Feature zu hören, gesteht heute: Er habe einmal Befristung als Weg gesehen, in den Arbeitsmarkt hineinzukommen, sieht aber heute, dass diese zur Regel wurde und deshalb damit Schluss gemacht werden sollte.
Der mittelständische Unternehmer Michael Feik, Miteigentümer des Reinigungsunternehmens Olymp, kennt die Verhältnisse in einer Niedriglohnbranche aus langer Erfahrung: Der Firma, die übertariflich zahlte, wurde von Billiglohnkonkurrenz zu schaffen gemacht: In Feiks Worten „kriminelle Angriffe“ – gemeint ist Scheinselbstständigkeit bei der Konkurrenz – sorgten dafür, dass Olymp ums Überleben kämpfen muss. Mit der Scheinselbstständigkeit nennt das Feature neben der Befristung den zweiten Baustein bei der Erschaffung des deutschen Prekariats. In Deutschland, so die Wirtschaftsberatung Ernst & Young, bestünden etwa 1,2 Millionen „potenziell scheinselbstständige“ Arbeitsverhältnisse. 28 Prozent der Selbstständigen müssten eigentlich sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden.
Viele Reinigungskräfte von Michael Feiks Konkurrenten arbeiten auf Gewerbeschein, sind aber mitnichten selbstständige Unternehmer. Sie arbeiten auf Weisung ihres Auftraggebers – manchmal zwölf oder gar bis zu vierzehn Stunden am Tag. Gerd Zudeck von Olymp belegt es mit Beispielen auf der Internationalen Automobil-Ausstellung, wo die großen Autokonzerne die Reinigungsfirmen beauftragen. „Sozialversicherungsbetrug“ nennt es Zudeck. Bei den niedrigen Preisen der Konkurrenz könne es gar nicht legal zugehen. Selbstverpflichtungen von Auftragnehmern etwa von BMW oder Mercedes seien in der Praxis wirkungslos. Und selbst wenn die Dumpingkonkurrenz nicht beauftragt wird, muss Olymp die eigenen Preise drücken, sagt Michael Feik – Unternehmensgewinn und Arbeitsplätze sind damit gefährdet.
Schröder, der „Reformkanzler“
2005, in seinem letzten Amtsjahr, lässt sich Bundeskanzler Gerhard Schröder beim Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos als Reformkanzler feiern. Er brüstet sich unter anderem damit, in Deutschland „einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut“ zu haben, „den es in Europa gibt.“ Der Ökonom Rudolf Hickel sieht eine Führungsrolle Deutschlands innerhalb der EU bei der Prekarisierung der Arbeitswelt. Deutschland habe den Niedriglohnsektor geschaffen, und innerhalb der EU habe sich die „Konkurrenz im Sinne der Lohnsenkung“ (Hickel) durchgesetzt.
In Deutschland stiegen die Unternehmensgewinne und auch die Beschäftigtenzahlen, europaweit aber wurde eine „Abwärtsspirale bei Einkommen und sozialen Standards“ (Albrecht Kieser) in Gang gesetzt. Ein portugiesischer Wirtschaftswissenschaftler beispielsweise erläutert, dass seit Beginn der Finanzkrise der Anteil der Arbeiter mit Tarifvertrag in Portugal von fast fünfzig auf unter sechs Prozent sank. Liberalisierungen und Lohnsenkungen erlebten auch weitere Länder der europäischen Peripherie wie Irland, Spanien, zuletzt Griechenland.
Der Forderung, das Wettrennen nach unten zu beenden, schließt sich heute auch Ex-Arbeitsminister Blüm an. Er fordert „soziale Schutznormen, die weltweit gelten.“
Paketdienste „angeklagt“
Paketdienste wie DPD, GLS oder DHL beauftragen gern Subunternehmen, bei denen rumänische Wanderarbeiter schon mal bis zu 90 Stunden an sechs Tagen pro Woche arbeiten. Dass ein Teil des Lohns nicht ausgezahlt wird, ist eine übliche Erfahrung – ergab ein symbolisches Tribunal der Gewerkschaft ver.di im Mainzer „Unterhaus“, bei dem Paketkonzerne „angeklagt“ wurden. Erhaltene 700 Euro im Monat rechnen sich dann herunter auf 2 Euro pro Stunde. Die Praxis des Outsourcings (Auslagerung von Tätigkeiten aus einem Unternehmen an Dritte) hat eine andere Realität geschaffen.
Ausgelagert wird häufig mittels sogenannter Werkverträge. Dabei bezahlt der Auftraggeber nicht mehr nach benötigten Arbeitsstunden, sondern er kauft eine vorher definierte Leistung, ein „Werk“. Bei Mercedes werden mittlerweile Kerntätigkeiten wie Bandarbeiten per Werkvertrag vergeben. Zweck ist auch hier die Einsparung von Kosten. Albrecht Kieser: „Neben Befristung und Scheinselbständigkeit sind Werkverträge die dritte Säule bei der Erschaffung des Prekariats.“ So werden Stammbelegschaften abgebaut, erläutert Michael Schlecht. Wer auf Werkvertrag arbeitet, verdiene zum Teil nur noch die Hälfte. Bis zu dreißig Prozent der Wertschöpfung eines Produkts werde über Werkvertragsnehmer erarbeitet.
Die gesetzlichen Regelungen zur Bekämpfung des Missbrauchs bei Leiharbeit und Werkverträgen, die Arbeitsministerin Andrea Nahles im Mai als großen Erfolg für sich verbuchte, werden daran wohl wenig ändern. So soll das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit für die Werkverträgler erst gar nicht gelten, und für Leiharbeiter wäre es ein weiter Weg bis dahin.
Willen- und machtlos gegen Missbrauch
Und was wird sonst staatlicherseits gegen Missbrauch und Betrug in der Arbeitswelt getan? „Wir erleben in der täglichen Praxis, dass es am ernsthaften Willen fehlt, diese Art von Kriminalität auch wirksam zu bekämpfen“, sagt Frank Buckenhofer, Beamter in der Finanzkontrolle Schwarzarbeit beim Zoll, in diesem Feature. Bei den Gewerbeaufsichtsämtern wie auch bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit herrsche zudem Personalmangel. Pro Jahr würden nur so wenige Betriebe kontrolliert – Tendenz sinkend –, dass ein Arbeitgeber in Deutschland höchstens alle dreißig Jahre mit einer Kontrolle rechnen müsse.
Beschäftigte im Recht, aber schutzlos
Nikola Petrovic, ein unbequemer Betriebsrat eines Chemieunternehmens, wird gemobbt und zweimal gekündigt, und als er Strafanzeige gegen seinen Arbeitgeber stellt, kann von der Staatsanwaltschaft „nicht ermittelt werden“, so Petrovic. Dabei steht Behinderung der Betriebsratsarbeit in Deutschland laut Betriebsverfassungsgesetz unter Strafe. Laut Statistischem Bundesamt wurden aber in den letzten fünf Jahren gerade mal zwei Arbeitgeber wegen Behinderung von Betriebsräten verurteilt. Bernd Rützel, in der SPD-Bundestagsfraktion deren stellvertretender Sprecher für Arbeit und Soziales, bestätigt, so das Feature, „dass ,Union-Busting‘, also die zielbewusste Zerschlagung von gewerkschaftlich orientierten Betriebsräten, für eine wachsende Zahl von Unternehmen zur Strategie gehört.“ „Es ist in der Tat so“, sagt Rützel, „dass letztendlich Verurteilungen ausbleiben. […] Und es ist für mich erschütternd, dass wirklich so viel kriminelle Energie von Seiten der Unternehmer eingebracht wird, sich einen Betriebsrat vom Hals zu schaffen.“ Rützel nennt unter anderem ein Beispiel von seinem eigenen Bäcker.
Warum aber kommt es nicht zu Verurteilungen? Ein Staatsanwalt, der im Feature anonym wiedergegeben wird – er erhält keine Erlaubnis für ein solches Interview –, nennt als Gründe das geringe Strafmaß von nur einem Jahr Freiheitsstrafe sowie die Tatsache, dass vor einer Verurteilung häufig eine Schlichtung erfolgreich ist. Er räumt ein: „Die Tatsache, dass Fehlverhalten des Arbeitgebers ohne Konsequenzen bleibt, ermutigt den Arbeitgeber und entmutigt die Arbeitnehmer.“ Strafandrohung als Abschreckung funktioniere so nicht.
Vermögensverteilung nach Vorbild USA
Ein Fazit des Features: Die einzigen Gewinner der Erschaffung des deutschen Prekariats sind die Vermögenden – die Kehrseite der Verarmung der Vielen. „Das ist fast so wie in den USA: Das oberste Promille hat fast ein Viertel des Vermögens“, weiß Michael Hartmann, empirischer Eliteforscher an der Technischen Universität Darmstadt. Die Auseinanderentwicklung der letzten 15 Jahre nennt er dramatisch. Die „sehr ausgewogene Mittelschichts-Gesellschaft“ in Deutschland sei Vergangenheit.
Der Hörfunk-Autor Albrecht Kieser schrieb unter anderem das Feature „Vom Unrecht des Stärkeren. Arbeitgebermobbing mit Anwaltshilfe“ (SWR/WDR/SR 2010).