Inge Hannemann, die als „Hartz-IV-Rebellin“ bekannt gewordene Hamburger Arbeitsvermittlerin im Jobcenter, war aufgrund ihrer Kritik am Umgang mit ALG II-Beziehern und an den internen Verhältnissen im Jobcenter von ihren dortigen Aufgaben freigestellt worden. In diesem Jahr erschien ihr Buch „Die Hartz IV Diktatur“.
Im Jobcenter zu arbeiten begonnen hat Inge Hannemann 2005 in Freiburg. Sie ging mit Engagement in die Tätigkeit, sah die Agenda 2010 allerdings damals wegen des Niedriglohnsektors schon sehr kritisch. Im Breisgau arbeitete sie zunächst mit engagierten Leuten, die vom Sozialamt kamen und sagten, uns interessieren die Menschen, nicht die schnelle Vermittlung. In Hamburg ab 2006 war dann alles ganz anders: ein restriktiver Führungsstil, Verschärfung der Gesetze, es ging nur noch um die Zahlen.
Antragstellern den Druck nehmen
Zum Hartz IV-Empfänger, gibt Inge Hannemann im Gespräch zu bedenken, werde man ganz schnell: „Uns trennen nur 12 Monate von Hartz IV.“ Dies sei sehr kurz, um einen neuen Job zu finden. Sie selbst wollte zunächst einmal vor allem zuhören, die Menschen mit ihren Sorgen und Ängsten akzeptieren. Die Antragsteller kämen ja schon mit Angst zur ersten Beratung. Sie müssen mit ihren Angaben beim Antrag sich „nackt machen“, Vermögensverhältnisse offenlegen, eventuell bereits mit der Angst, die Wohnung verlassen zu müssen. Sie selbst kann gar nicht viel anbieten, vielleicht eine Million zur Verfügung stehende Arbeitsplätze bei drei Millionen Arbeitslosen. Und das ist hauptsächlich, zu etwa 70 Prozent, Zeit- und Leiharbeit – oder ein Bewerbungstraining, EDV-Training oder Ein-Euro-Jobs. Es wird mit der Drohung von Leistungskürzungen Druck aufgebaut, gerade in Hamburg sollte sie in Erst- oder Zweitgesprächen auf mögliche Sanktionen hinweisen. Warum, dachte sie, sollte sie schon am Anfang Angst machen? Wir sind doch Dienstleister… Leider, sagt Inge Hannemann an anderer Stelle des Interviews, dächten und handelten aber nur 30 Prozent der Kollegen genauso. Für die heute 47-Jährige war es kaum aushaltbar, wenn Kolleginnen oder Kollegen sagten, was der „Kunde“ will, interessiere sie nicht, er habe das zu machen, was sie sagen – zum Beispiel in die Branche zu gehen, wo etwas frei ist, oder er habe sich zu bewerben oder muss dahin gebracht werden.
Weiterbildungen, findet Hannemann, seien oft nicht sinnvoll, die Hälfte der Gelder für Qualifizierungen würden außerdem in Ein- oder Null-Euro-Jobs gesteckt. Auch wiederholtes Bewerbungstraining bringe nichts, sie sieht hier eine Verschwendung von Steuergeldern in Millionenhöhe.
System macht sinnvolle Arbeit kaum möglich
Bundesweit arbeiten die Jobcenter sehr unterschiedlich. Inge Hannemann kennt eines in NRW, das wenig sanktioniert, nicht in Ein-Euro-Jobs vermittelt – da diese nicht in sonstige Tätigkeiten führen – und sich um die Menschen versucht zu kümmern, aber eine Erfolgsquote vorweist. Auch zu Inge Hannemann kamen Menschen ohne Angst, weil sie nicht auf mögliche Sanktionen hingewiesen hat.
Das System Hartz IV mache wirklich sinnvolle Arbeit schwierig bis unmöglich, sagt sie. Das System, also das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, verlange, dass das Jobcenter die Menschen vermittelt. Zum System gehöre auch die Einführung eines Niedriglohnsektors und, so das Gesetz, dass jede Arbeit zumutbar sei. Unternehmen, vor allem Zeit- und Leiharbeitsfirmen, profitieren vom niedrigen Bruttolohn und Zuschüssen für den Erwerbslosen. In den Unternehmen hat Zeitarbeit auf breiter Basis Einzug gehalten: Leiharbeitnehmer sind in vieler Hinsicht getrennt von der Stammbelegschaft, für sie gibt es etwa eine andere Kantine, sie sind anders gekleidet – man erkennt sie also sofort –, sie haben weniger Vergünstigungen (zum Beispiel keinen kostenlosen Kaffee), und weniger verdienen sie sowieso.
Boreout
In Hamburg erlebte Inge Hannemann einen „Boreout“, nicht, wie sie annahm, einen Burnout – und zwar wegen Unterforderung, so ihre Therapeutin: Sie dürfe nicht selbst denken, sie müsse sich an das Sozialgesetzbuch II, an eine vorgegebene Linie halten.
Die Macht der Jobcenter-Arbeitsvermittler „ist sehr sehr groß“, sie können den „Kunden“ zum Beispiel vorschreiben, sich als Lagerhelfer zu bewerben, sonst gäbe es Leistungskürzung.
Was passiert denn, wenn der „Kunde“ sich weigert? Das kann bis zur kompletten Streichung der Leistung, auch der Miete, gehen. Junge Menschen (bis 25) werden sogar schneller bestraft. Die Reaktionen auf Drohungen sind verschieden, manche Menschen beugen sich dem System, was bedeuten könne, sie zerbrechen, andere melden sich ab, ohne dass Inge Hannemann wusste, was dann mit ihnen passiert. Die Mehrheit resigniert, nur wenige suchen intensiv nach einer Stelle.
Zunehmender Widerstand
Nach ihrem Boreout ging Hannemann auch andere Wege: Sie wandte sich an die Öffentlichkeit, schrieb in einem Blog, setzte einen „Brandbrief“ ins Internet. Darauf erfolgte relativ schnell die Freistellung. Sie hatte bereits in Teambesprechungen immer Fragen gestellt (Warum werden wir nicht qualifiziert, warum müssen wir die Quote erfüllen…), die nie beantwortet wurden. Stattdessen: „Wenn es dir nicht gefällt, dann geh“. Sie wandte sich brieflich an unterschiedlichste Institutionen, unter anderem an den Bundespräsidenten. Die SPD, erkannte sie, antwortete per Textbausteinen. Kollegen sagten ihr: „Du hast ja recht, aber wenn wir aufbegehren, verlieren wir unseren Job“. Auch wegen Überlastung und um Restriktives zu kritisieren, versuchte sie es mit einer bundesweiten internen E-Mail, die aber schnell gestoppt und gelöscht wurde.
Neuer Job und aktiv in der Politik
Gegen ihre Freistellung 2013 zog Inge Hannemann vor Gericht. Inzwischen hat sie einen neuen Job im Integrationsamt der Hamburger Sozialbehörde, ist aber auch in der Politik aktiv: Seit Beginn des Jahres ist sie Bürgerschaftsabgeordnete für die Partei Die Linke, nachdem sie bereits an der außerparlamentarischen Bewegung teilnahm und der Bezirksversammlung Hamburg-Altona angehörte.
Die junge Generation, meint Inge Hannemann, werde von der älteren im Stich gelassen – ihr werde gesagt, wenn du richtig gut bist, kannst du es schaffen. Die Erfahrung sei aber, dass nach mehreren unbezahlten Praktika nichts erreicht ist. Die Unternehmen sagten sich: Wir kriegen doch trotzdem die Leute, sie stehen Schlange.
Seit der Agenda 2010 würden Erwerbslose als „faul“ stigmatisiert. Die meisten aber, so Inge Hannemann, wollen arbeiten – bis auf vielleicht drei Prozent, und das sei im Erwerbsleben genauso, ein kleiner Teil lasse sich von Anderen mitschleppen. Das System, so wie es ist, funktioniere nicht, da sei das alte mit der Arbeitslosenhilfe besser gewesen, in dem diese Angst nicht entstehen konnte, die Wohnung zu verlieren, nichts zu essen zu bekommen, ins Bodenlose abzustürzen.