„Des kann in Europa nicht sein, dass du zu Hause auf den Tod wartest, weil du dir nichts mehr zu essen kaufen kannst.“ Hungern bis zum Tod? Im Athener Stadtteil Peristeri, von der Krise mit am stärksten betroffen, sei eine 66-jährige Frau, so erzählt es Erwin Schrümpf zu Beginn der Sendung, auf 39 Kilo abgemagert ins Sozialzentrum gekommen, „und die haben dann einfach noch versucht, ihr das Leben zu retten.“
Der Österreicher gründete 2013 den humanitären Verein „Griechenlandhilfe“, nachdem ihm in einem Medienbericht das durch die Wirtschaftskrise ausgelöste soziale Elend in Griechenland vor Augen geführt wurde.
Dadurch aufgerüttelt, organisierte Schrümpf mit der Hilfe eines Pharmakonzerns „einen Bus voll Medikamente gratis für Griechenland.“ So begann es. Heute fahren fünf Kleinbusse die Strecke, hinzugekommen ist ein großer LKW, der jeden Monat 20 Tonnen transportiert. Die Fracht besteht aus medizinisch-sanitärem Material – Medikamente, Verbandszeug, sterile Handschuhe –, dazu Verschiedenstes wie Babynahrung oder Schulhefte, denn es fehle an allem.
„Massive Verschlechterung“
Die Reporterin Theodora Mavropoulos begleitet den 51-Jährigen auf einer seiner Fahrten über fast 5000 Kilometer von Seekirchen am Wallersee nach Athen – ein weiter Teil der Strecke wird auf der Fähre vom italienischen Triest über Adria und Ionisches Meer bis nach Patras auf dem Poloponnes zurückgelegt. In den drei Jahren, in denen er die Situation vor Ort kennengelernt hat, sagt Erwin, „ist eine massive Verschlechterung eingetreten.“ Ging es anfangs um medizinisches Zubehör, seien es heute Decken und Lebensmittel. „Und die Anfragen, die wir jede Woche bekommen von anderen Krankenhäusern, werden auch wöchentlich mehr.“
In Peristeri wird das Verwaltungsgebäude angesteuert, sozusagen die Spendensammelstelle, von der aus in die einzelnen Sozialzentren weiterverteilt wird. Neben den Mitarbeitern treffen Erwin und Theodora auch einen entlassenen Lastwagenfahrer. Da auch seine Frau keine Arbeit mehr hat, erzählt er, sind sie mit drei Kindern nun auf die Hilfe durch die Sozialzentren angewiesen. Aus Dankbarkeit für diese Unterstützung hilft er hier nunmehr selbst fast täglich mit. „Sie können sich nicht vorstellen, was hier vor sich geht.“
Auf ihrer nächsten Station, einer Klinik der „Ärzte der Welt“, die seit 25 Jahren auch in Griechenland aktiv sind, wird Erwin von der bei der Hilfsorganisation angestellten Koordinatorin Angeliki Mavrikou begrüßt. Auch hier ist die Zahl der Patienten in den letzten Jahren stark gestiegen. Mavrikou: „Je mehr Arbeit wir hier haben heißt: Dass das staatliche Gesundheitssystem umso weniger funktioniert.“ Wer gar nicht (mehr) krankenversichert ist, sei am schlimmsten dran. „Doch selbst Versicherte erhalten oft keine Leistungen mehr, weil sie zuerst eine Eintrittsgebühr in die Krankenhäuser und Praxen zahlen müssen. Für viele Medikamente und bestimmte Operationen müssen sie – auch in staatlichen Krankenhäusern – selbst aufkommen. Aber sie haben das Geld nicht, weil es überaus harte Kürzungen bei den Renten und den Löhnen gab.“ Die Renten etwa wurden seit Beginn der Krise um die Hälfte gekürzt.
Die aus Deutschland stammende Internistin Bettina Krumpholz lebt seit 25 Jahren in Griechenland. Als das nationale Gesundheitssystem dreieinhalbtausend Ärzte entließ, gehörte sie zu den Betroffenen. Schon vorher leistete sie ehrenamtliche Arbeit in der Poliklinik der „Ärzte der Welt“, inzwischen kommt sie jeden Tag. Die Mittel aus privaten Spenden, von Stiftungen, Firmen und einem EU-Programm reichen wegen der immer größeren Patientenzahl nicht aus. Es fehle sehr viel Material, sagt Bettina Krumpholz, selbst die einfachsten Dinge „wie Klopapier“. „Ich hätte mir vor fünf Jahren wirklich nicht vorstellen können, dass es in diesem Lande so zugeht.“
Für die „Ärzte der Welt“ wird am folgenden Tag eine Hilfslieferung mit dem großen LKW ankommen.
Zahl der Patienten in einer Sozialklinik steigt sprunghaft
Nächste Station ist die von dem Kardiologen Georgios Bichas mitaufgebaute Sozialambulanz im alten Flughafengelände in Elliniko, einem südlichen Vorort von Athen. Dort könne jeder hingehen, der wirklich Hilfe braucht. Mehr als 1000 Patienten werden pro Monat in der Klinik von ohne Bezahlung arbeitenden Ärzten unentgeltlich behandelt. Erforderliche Medikamente werden von Geldspenden aus dem In- und Ausland gekauft. Dazu kommen Medikamentenspenden. Georgios Bichas arbeitet in der Sozialklinik zusätzlich zu seiner Arbeit im staatlichen Krankenhaus. „Im Frühjahr 2011 fing ich an, mir Gedanken zu machen. Damals wurden die ersten Patienten arbeitslos, es gab keine Neuanstellungen mehr, und viele verloren ihren Versicherungsschutz. Doch den endgültigen Entschluss, etwas zu tun, fasste ich, als einer meiner Patienten halbtot zu mir kam. Ich fragte, was los sei und als er antwortete, dass er sich seit einem halben Jahr keine Medikamente mehr leisten könne, da wusste ich: jetzt muss etwas geschehen.“ Ein geeignetes Haus wurde der Initiative überlassen, Ende 2011 konnte es losgehen. Bereits im zweiten Jahr stieg die Zahl der von ihnen behandelten Patienten um mehr als das Doppelte, um dann Jahr für Jahr um vier- bis fünftausend zu wachsen. Noch vor Ende 2015 lag die Zahl der Patienten bei 20.000.
Georgios Bichas: „Tuberkulose tritt wieder häufig auf. Auch Hepatitis und Aids. Wir haben große Sorge, dass Krankheiten wie Kinderlähmung sich wieder ausbreiten, denn viele Kinder werden nicht mehr regelmäßig geimpft. Und wir befürchten, dass auch Typhus und Cholera wiederkehren. […] Das ist für ganz Europa gefährlich.“
Als Theodora und Erwin wieder in den Bus steigen, hat eine Patientin einen Glücksbringer an die Fahrertür gehängt.
(Zitate in diesem Text nach dem Manuskript.)
Weiterlesen: ein Interview mit Georgios Bichas im Tagesspiegel vom 2.6.2015.