Nordwestradio, 14. August 2016

„Er konnte Menschen bezaubern“

Zum 60. Todestag: Zeitzeugen über Brecht – Feature-Wiederholung
Brecht-Skulptur von Fritz Cremer neben dem Berliner Ensemble (Detail)
Brecht-Skulptur von Fritz Cremer neben dem Berliner Ensemble (Detail)

Bertolt Brechts sechzigster Todestag am 14. August fand im Radio verständlicherweise nicht so viel Berücksichtigung wie der fünfzigste vor zehn Jahren. Das Nordwestradio griff für eine Wiederholung zu einem von ihm zum 50. Todestag des großen Dramatikers produzierten Feature. Eine willkommene Wiederausstrahlung: Die Collage-Spezialisten Michael Augustin und Walter Weber versammeln eine Fülle von persönlichen Erinnerungen an Brecht. Darin finden sich auch von Augustin und Weber selbst gesammelte Stimmen von Weggenossen, die in jungen Jahren Brecht noch erlebt haben. Manche von ihnen sind inzwischen verstorben. Das Feature konzentriert sich auf Brechts letzten Lebensabschnitt nach seiner 1947 vollzogenen Rückkehr aus dem Exil. Nicht zuletzt ist der Theatermann selber in historischen Tondokumenten zu hören.

Erinnerungen an den Menschen

Die persönlichen Erinnerungen in diesem Feature betreffen zunächst einmal Brechts – wenig schmeichelhaft beschriebenes – Äußeres: In der Schweiz, wo Brecht und seine Familie nach ihrer Rückkehr nach Europa ein Jahr lang wohnten, erlebte der Schriftsteller Max Frisch den bayerischen Kollegen – und sah ein „erschreckendes Gesicht, abstoßend […]. Ein Lagerinsasse mit Zigarre. […] Nur grau.“ Noch einige Jahre später findet sich ein ähnlicher Eindruck bei der jungen, aus München nach Ost-Berlin angereisten Studentin und späteren Literaturwissenschaftlerin Marianne Kesting, von der schon 1959 eine Brecht-Biographie erschien: „Immer etwas ungewaschen“ sei er gewesen, mit dreckigen Fingernägeln und einem Dreitagebart, eine „etwas graue Atmosphäre um sich“. Er habe wie ein Sträfling gewirkt.
Und auch Gisela May, später eine berühmte Brecht-Schauspielerin und Diseuse, fand den Dramatiker „nicht sehr gepflegt“, als sie ihn, seine Frau Helene Weigel und Mitglieder des Ensembles wiederholt im Künstlerclub „Die Möwe“ sah. Wie die Weiber denn so verrückt auf ihn sein konnten, fragte sie sich vom anderen Tisch aus – so ihre Worte in diesem Feature.

Brechts Persönlichkeit war es aber, die auf die Menschen in seiner Umgebung den größten Eindruck machte. „Wenn man ihn kennenlernte […] ein ungeheuer charmanter liebenswürdiger Mensch“, ist im O-Ton die berühmte, 1975 verstorbene Brecht-Schauspielerin Therese Giehse zu hören, obwohl: „Im Streit wurde er hart.“ „Er hatte einen unglaublichen Charme“, bestätigt der Schriftsteller Günter Kunert. „Er konnte Menschen bezaubern.“ Kunert erzählt, wie er in den späten 1940er Jahren Brecht aufsuchte, als dieser noch im stark zerstörten Hotel Adlon in Berlin „hauste“. Er wollte ihm auf Rat eines Freundes seine Gedichte zeigen. Brecht, so Kunert in der Rolle als Zeitzeuge, habe die Gedichte des Jüngeren so „sorgsam“ entgegengenommen, als habe er sein ganzes Leben lang auf nichts anderes gewartet.
Bert Brecht sei auch ein „Mensch von großer Spontaneität, großer Naivität“ gewesen, erinnert sich der 2014 verstorbene Manfred Wekwerth, der bereits als ganz junger Mann 1951 ans Berliner Ensemble kam. Er habe auf der Probe auch gern gelacht. „Man konnte mit Brecht wunderbar blödeln.“

Brecht am Theater

Die jungen Leute in Brechts Umgebung hat der Theatermacher auch für seine Bühne gesucht. Dies kommt im Feature in zwei kurzen (Radio-?) Interview-Ausschnitten zur Sprache. Nach ihnen gefragt, entgegnet Brecht: „Die jungen Leute beginnen sofort mit den normalen Arbeiten des Berliner Ensemble“, mit einer Dramaturgie oder Vorbereitungen einer Aufführung. Es gäbe keine Kurse oder Belehrungen, sie bekämen Aufgaben und versuchten sie auszuführen. An anderer Stelle redet Brecht von dem Glück, dass sie hatten, von Anfang an mit großen Schauspielern [wie Therese Giehse, Ernst Busch] arbeiten zu können, ein Gewinn für den Nachwuchs, der nach der Schauspielschule sofort anfing zu spielen. 

Über den Umgang Brechts mit Schauspielern und anderen Mitarbeitern entsteht nach den in diesem Feature zitierten Stimmen kein einheitliches Bild. Nach der Erinnerung des 2012 verstorbenen Theaterwissenschaftlers und Kritikers Ernst Schumacher habe Brecht die Schauspieler zu Wort kommen lassen und auf die Meinung von Mitarbeitern großen Wert gelegt. Schumacher sieht in dem Dramatiker einen „demokratisch vorgehenden großen Künstler“. Günter Kunert dagegen „weiß nicht, ob er bei den Schauspielern sehr beliebt war“, denn er habe ja unbedingt seine Sichtweise und sein Verständnis von Theaterarbeit durchsetzen wollen. Der junge Kunert erlebte Theaterproben, und dabei gerieten manchmal Brecht „und Schauspieler ziemlich hart aneinander.“ Erwin Geschonnek etwa sei nicht so überzeugt gewesen von Brechts „Verfremdungstheorien“ und bezeichnete Brecht höhnisch als „das Genie“.
„Er hatte großen Ärger mit Ernst Busch“, erinnert sich Manfred Wekwerth. Brecht traute sich diesem namhaften Schauspieler gegenüber keine Kritik, abseits aber habe er auf ihn geschimpft, wie „eitel“ er sei. Busch, so Wekwerth, sollte an einer bestimmten Stelle im „Leben des Galilei“ „eine Krise zeigen“, das machte er aber nicht. Nun sollte auf Wunsch Brechts Wekwerth dem Busch sagen, wie dieser es spielen sollte – was der junge Mitarbeiter tat, und das hatte die erwünschte Wirkung. So kam er, erzählt Wekwerth, zum Titel des „Assistenzregisseurs“.
Auf Band festgehaltene Probenausschnitte Brecht versus Geschonnek und Brecht versus Busch, die in diesem Feature zu hören sind, bestätigen nicht ganz die Einschätzung der Zeitzeugen: Gegenüber Geschonnek äußert Brecht in freundlichem Ton Lob und Kritik. Der Austausch zwischen Busch und Brecht ist näher an einer Auseinandersetzung.
Auch für das Lachen auf der Probe, von dem Manfred Wekwerth spricht, ist in dem Feature ein Beispiel zu hören: Brecht will eine starke („richtige“) Umarmung. Das führt schließlich zu allgemeiner Heiterkeit, und auch der Regisseur hat hörbar Spaß.

Brecht und die Politik

Immer wieder für Diskussionen sorg(t)en Brechts Verhalten und seine Stellungnahmen rund um den 17. Juni 1953. Im Feature ist Manfred Wekwerth, der Brecht in jenen Tagen erlebte und begleitete, ein authentischer Zeuge: „Im Gegensatz zu den Politikern“ habe der politisch „hellsichtige“ Brecht die Zuspitzung vorausgesehen. Am Vortag des 17. Juni war er in seinem Landhaus in Buckow in der Märkischen Schweiz und rief neben anderen Wekwerth zu sich. Nach dem laut gewordenen Widerspruch gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen habe sich Brecht für Streik ausgesprochen, den er auch voraussah. Dann waren aber die Leute („auch von West-Berlin aus“, so Wekwerth) in Massen auf der Straße. Das West-Radio hatte seine Reporter im Getümmel, das Ost-Radio brachte Operettenmelodien. Brecht wollte laut Wekwerth zum Rundfunk, um dort zu reden bzw. etwas zu senden. Sie fuhren hin, seien vom Sendeleiter, der Brecht „intellektuelle Bauchschmerzen“ bescheinigte, aber abgewiesen worden, es sei doch gar nichts los. Sie mussten „wütend“ wieder abziehen.
Noch am 17. Juni schrieb Brecht einen Brief an Ulbricht, in dem er sich für eine große Aussprache zwischen den Massen und der Partei einsetzte, von dem aber nur der Schlusssatz über seine „Verbundenheit mit der SED“ in der Zeitung zu lesen war.

Über Brechts politische Haltung darüber hinaus erzählt Günter Kunert in dem Feature, der Dramatiker sei nur „wütend“ gewesen, „auf der untersten Stufe des Tobens“. Auf die „Verbrecher“ (die Funktionäre) habe er geschimpft, aber nur im Privaten. Nach außen hin stand er loyal zur DDR, wie man aus den Erinnerungen Marianne Kestings schließen kann: Mit ihr, der aus München kommenden, daher „sehr westlich aussehenden“ Studentin, suchten, so erzählt sie ein halbes Jahrhundert später, bisweilen Menschen in Ost-Berlin das Gespräch. Abseits, wenn niemand zuhörte, schimpften sie auf die DDR-Regierung. Wenn Kesting Brecht von der von ihr wahrgenommenen Opposition der Bevölkerung, von der „Tristesse“ erzählte und wie grau doch alles sei, habe er davon nichts hören wollen. Die junge Frau sei vom Kurfürstendamm beeindruckt, habe Brecht ihr vorgehalten, ihr Bild komme von den Medien des Westens.

Wenige Monate vor seinem Tod erfuhr Brecht noch von Chruschtschows Rede auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 und der darin enthaltenen Anklage der Verbrechen der Stalin-Zeit. Wie mag Brecht diese Enthüllungen reflektiert haben? Sie „konnten ihn nicht so treffen“, sagt Ernst Schumacher, er habe schließlich manches gewusst, wie „das Schicksal seiner zeitweiligen Favoritin Carola Neher“, von der man zu dieser Zeit wusste, dass sie umgekommen war. Es müsse offen gesprochen werden, habe Brecht gesagt, jedoch wie offen wäre das unter den bestehenden politischen Machtverhältnissen möglich gewesen?

Brechts Tod

Die Nachricht von Brechts Tod, für Manfred Wekwerth „außerhalb jeder Vorstellung“, erhielt dieser durch Benno Besson. Bei aller Bedrückung mussten sie am nächsten Tag weiter proben, da ein Gastspiel nach London mit dem „Kreidekreis“ bevorstand. Brecht, erzählt Wekwerth, habe Angst gehabt, als Scheintoter beerdigt zu werden. Bei Feststellung seines klinischen Todes sollte ihm daher von Ärzten mit einem Stilett ins Herz gestochen werden, so sei es auch geschehen. Um nicht von Maden angefressen zu werden, wollte Brecht laut Testament in einen Zinksarg gelegt werden, der musste aber erst angefertigt werden – und war enorm schwer: Wekwerth trug den Sarg mit Besson, Peter Palitzsch und noch anderen, sie konnten ihn kaum tragen. 
Günter Kunert erzählt, wie er Brecht kurz vor dessen Tod in Buckow sah: mit einem kleinen Mädchen auf dem Schoß. Der Alte habe dem Kind etwas über den Wind erzählt, der auf die Bäume wirkt. Für Kunert ein eindrucksvolles Bild, das eine Selbstcharakteristik Brechts enthalte: „Arbeitet mit anderen zusammen.“

Der Titel des Features, „Ich benötige keinen Grabstein“, ist die erste Zeile eines Brecht-Gedichts, das allerdings – sofern mir nicht entgangen – jedenfalls in der hier gesendeten Fassung gar nicht zitiert wird. Sollte für ihn ein Grabstein gesetzt werden, ist in dem Gedicht zu lesen, so wünsche sich Brecht eine bestimmte Aufschrift. Insofern wurde seinem Wunsch, wenn man das Gedicht als Willensäußerung verstehen möchte, auf doppelte Weise nicht entsprochen: Den Grabstein bekam er. Mit lediglich seinem Namen darauf.

Auf der Sendungsseite finden sich Ausschnitte aus den für dieses Feature erstellten Interviews – auch mit ergänzenden Aussagen der Befragten, die für diese Sendefassung nicht berücksichtigt wurden.

Ich benötige keinen Grabstein

Erinnerungen an Bertolt Brecht

Eine Radiocollage von Michael Augustin und Walter Weber
Original-Tonaufnahmen von Bertolt Brecht, Ernst Busch, Max Frisch, Therese Giehse, Elisabeth Hauptmann, Marianne Kesting, Günter Kunert, Regine Lutz, Gisela May, Käthe Reichel, Käthe Rülicke, Ernst Schumacher, Gerhard Thieme, Helene Weigel, Manfred Wekwerth, Carl Zuckmayer
Sprecher: Holger Mahlich
Regie: Christiane Ohaus
RB 2006

Nordwestradio, Reihe: Feature
14. August 2016, 16.05 Uhr, 55 min.