SWR2, 11. Mai 2016

„Being Max Reger, das wär’s mal“

Ein Musikfeature zum Reger-Jahr

Was für ein Gedenkjahr 2016! Auch dem Komponisten Max Reger wurden zum 100. Todestag (11. Mai) eine ganze Reihe Sendungen gewidmet. Ein SWR2-Musikfeature ließ drei Persönlichkeiten von ihrer Reger-Passion erzählen: Eine Forscherin sowie zwei Musiker, denen die Aufführung von Werken des Jubilars Herzensangelegenheit ist.

Max Reger wurde, nur 43 Jahre alt, am 11. Mai 1916 morgens in seinem Hotelzimmer in Leipzig tot aufgefunden. Sein Herz hatte das hohe Tempo eines rastlosen Lebens nicht mehr mitgemacht: Er schrieb etwa 300 eigene Werke, zu denen noch Bearbeitungen anderer Komponisten kamen. Er konnte bis zu 40 Briefe an einem Tag schreiben. Als Konzertreisender verbrachte er mehrere Nächte hintereinander in der Eisenbahn, und verzichtete dabei auf Schlaf. „Das Gefühl der Ermüdung kenne ich überhaupt nicht. Sechs Stunden Schlaf genügen vollständig“, wird Reger zu Beginn der Sendung zitiert. In zehn Jahren Ehe habe er keine zehn Tage Ferien zusammenhängend genommen.
Um den enormen Schaffensdrang zu bewältigen, rauchte, trank und aß er exzessiv: Auf bis zu 25 Zigarren an einem Tag soll er es gebracht haben, von den kleinen bayerischen Weißwürsten konnte er, wird berichtet, bis zu dreißig auf einmal verdrücken und dazu noch zehn Liter Bier trinken. 
Susanne Popp, langjährige Leiterin des Max-Reger-Instituts in Karlsruhe und wohl die Reger-Kennerin der Gegenwart, weiß in der Sendung zu berichten, der Komponist habe schon als junger Mann geschrieben, er wüsste ja, dass er nicht alt werden würde. Der Gedanke an den Tod sei für Reger beherrschend gewesen und durchziehe auch seine Werke wie ein roter Faden. Seine „schwarzdüster blickende Seele“, hören wir aus einem Briefzitat, sehe immer nur den Tod, schrieb er an seine spätere Frau Elsa von Bercken.

Viele Facetten

Die Künstler fasziniere, so Susanne Popp weiter, die persönliche facettenreiche Handschrift des Komponisten. „Ich höre immer wieder, es ist viel schöner Reger zu spielen als zu hören, weil man beim Spielen ständig wieder irgendwelche kleine Facetten entdeckt, die man vorher nicht so betont.“ Der Komponist Max Reger schaut sowohl zurück auf die Tradition und gleichzeitig nach vorne in Richtung Moderne. Er geht frei mit den Stilepochen um und lässt daraus etwas ganz Persönliches entstehen.

Der Reger-Pianist

Der Pianist Markus Becker beschäftigt sich als Solist, Kammermusiker und Liedbegleiter „mit diesem großartigen, aber dennoch schwierigen Komponisten“. Becker hat auf 12 CDs alle Klavierwerke Max Regers eingespielt. Zu einer Handvoll größerer wie den Bach- oder den Telemannvariationen kommen bei dem Jubilar 300 kleinere Klavierwerke mit Namen wie Humoresken, Phantasiestücke oder Intermezzi. Es sind komplexe Stücke: Schon Regers Zeitgenossen war aufgefallen, dass er innerhalb weniger Akkorde mehrmals die Tonart wechselte. Markus Becker spricht in der Sendung von vielen harmonischen Wendungen in einem Takt ohne herkömmliche Kadenzlogik, der Komponist habe das „Modulieren“ genannt. Er gehe von einer Tonart quer durch den Quintenzirkel irgendwo anders hin, so gerate das Notenbild „vollgeballert mit Vorzeichen“. Auch nach langem Üben komme Becker sich vor, als spiele er vom Blatt. 
Der Pianist sieht in Regers Klavierwerk nichts für Tastenlöwen. Der Klaviersatz sei sehr akkordisch, orchestral wie bei Brahms und darin unglaublich beweglich. Reger erschließe sich nicht beim ersten Hören, von den Klavierwerken seien aber die Meisten überrascht, „wie charmant und wie zugänglich dieser Komponist doch sein konnte“. 
„Being Max Reger, das wär’s mal“, so Markus Becker salopp. Nun, im Kopf des Komponisten wäre dann – um Zitate aus diesem Musikfeature heranzuziehen – eine „Überfülle der Einfälle“ ebenso zu erleben wie, wollen wir Max Reger glauben, ein erstaunliches Gedächtnis: „Mein Gedächtnis ist so entwickelt, dass ich all das da [,auf der Eisenbahn‘] Komponierte behalte, und dann sogleich oder nach Monaten zu Papier bringe – ohne Entwurf.“ 

Konzerte bis zum Abwinken

Max Reger war als ausführender Musiker bereits bekannt, als sich ab 1904 auch seine Kompositionen durchsetzten. Er reiste nun immer häufiger, um seine Werke aufzuführen und sie bekannt zu machen, ab 1908 auch als Dirigent. Reger selbst sprach von „Konzerthetze“: Wenn er mit dem Nachtzug von Stadt zu Stadt eilte, komponierte er neue Werke. Ende 1911 wurde Reger Kapellmeister der berühmten Hofkapelle in Meiningen, hielt diese Position aber nur zweieinhalb Jahre. Wegen Erschöpfung musste er die Konzerttätigkeit und seine Stelle als Meininger Hofkapellmeister schließlich 1914 aufgeben. „Ich habe jetzt geradezu einen Ekel vor dem Konzertsaal.“ Jedoch: Untätigkeit hielt Max Reger nicht aus. Während einer Kur in Meran schrieb er die beliebten „Mozart-Variationen“.
Susanne Popp spricht von einer Musikerkrankheit bei Max Reger, immer Musik im Kopf zu haben. Der Meister selbst wünschte sich, so der Sendung zu entnehmen, für jeden Tag 72 Arbeitsstunden, „damit ich alles niederschreiben könnte, was ich alles im Hirn habe.“

Reger-Lieder singen

Die Mezzosopranistin Frauke May hat sich um die Wiederentdeckung von Max Regers Liedern verdient gemacht. Bis heute hat sie etwa zweihundert gesungen, darunter „Schlichte Weisen“ op. 76, die in sechs Heften vorliegen. Mit ihrem Duopartner, dem Pianisten Bernhard Renzikowski (einem „Ur-Ur-Enkelschüler von Max Reger“) gibt sie Gesprächskonzerte mit Erläuterungen zu Leben und Werk – und experimentellem Charakter: Reger soll als Klavierbegleiter vor lauter Überschwang ins Improvisieren gekommen sein und den Sängern damit „den Angstschweiß auf die Stirn getrieben“ haben. Dies stellt das Duo in seinen eigenen Konzerten nach. 
Auch für die Sängerin ist der Jubilar kein leicht zu erschließender Komponist: „Bei Reger sieht man schwarz oder man sieht auch rot“, sagt Frauke May und meint damit einen vollen und dichten Notentext, dazu „in roter Tinte“. Man müsse einen Diamanten freilegen, bevor „die wunderbare Musik“ hörbar wird. Und: Die „Schlichten Weisen“ seien durchaus nicht schlicht. Reger habe dort harmonisch und melodisch experimentiert. Frauke May sieht in den „Weisen“ Regers ganze Bandbreite, die Sammlung enthalte Wiegenlied und Scherzlied ebenso wie herbere Lieder. Als Beispiel nennt sie „Die Nixe“, die Vertonung eines Gedichts von Gustav Falke: Eine Nixe taucht aus der Tiefe des Wassers auf, entsprechend beginnt auch die Komposition mit tiefen Tönen, um in der Folge chromatisch aufzusteigen. Wenn die Nixe wieder absteigt in die Tiefe, sei das ein (auch kompositorischer) Krebsgang, „sehr erhellend“, findet Frauke May, die „Die Nixe“ eins ihrer Lieblingslieder nennt. 

Reger, der Witzereißer

„Max Reger, Freiherr von und zu Notenhausen, Besitzer der Schlösser Kontrapunkt und Kanon und der Rechtsabtei Fuge. Inhaber des blechernen Harmonikordens und des hölzernen Verdienstkreuzes des Rhythmikordens. Dr. Humoris Causa. Mit warmem Hundedreck, pardon Händedruck, stets Dein alter Rex Mager“.
Als komplementär zu Regers bereits erwähnter tiefernster Seite kann man sein „unerschöpfliches Witzrepertoire“ (Autorin Almut Ochsmann) betrachten, das zu seinem Markenzeichen geworden ist. „Enfant terrible der deutschen Musik“, „alter Ulkvogel“ oder „Weißbiermörder“ nannte Reger sich selbst. Mit dem Humor – als Fassade – habe er sich die Leute vom Leib gehalten, sagt Susanne Popp: Nach Konzerten soll Reger zwei Stunden lang Witze erzählt haben – und ließ niemanden zu Wort kommen, in den Worten der Forscherin eine „Runterfahrfunktion“.

Die neue Reger-Werkausgabe

Mit der Edition aller Orgelwerke begann am Karlsruher Max-Reger-Institut 2008 die Arbeit an der Reger-Werkausgabe (RWA), die hybrid angelegt ist: Eine DVD enthält einen digitalen Teil mit allen verfügbaren Quellen. Alexander Becker, Mitherausgeber der Edition, nennt die Arbeit mit den Originalen eine „Detektivarbeit“. Er erläutert in der Sendung, dass Max Reger seine Werke auf dreierlei Weise korrigierte: per Überschreiben, Überklebungen von anderem Text oder durch „Rasuren“, das heißt die oberste Papierschicht wurde abtragen mit einem Rasiermesser. Becker vergleicht das Zusammensetzen von Regers Leben und Werk mit einem großen Puzzle. 
Und der Forschung geht das Material so schnell nicht aus: Immer wieder, so Almut Ochsmann,  Autorin dieser Sendung, tauchen neue Reger-Dokumente auf – aus Privatnachlässen, Bibliotheken oder Archiven. Manches Werk erscheine so in einem neuen Licht. 

An Max Regers Musik, so ein Fazit der Autorin, scheiden sich die Geister, damals wie heute. Es fehlten eingängige Melodien, die Musik sei nur unverständlich, sagen die einen. Andere bewundern Regers kontrapunktische bzw. modulatorische Künste. Für manch einen Zeitgenossen war Reger der neue Bach. Und das dürfte dem Nachfahren Ehre gemacht haben, war doch auch für ihn „Sebastian Bach […] Anfang und Ende aller Musik.“ 
Wie sah der diesjährige Jubilar sein eigenes Nachleben? Das Schlusszitat der Sendung sei auch hier wiedergegeben: „Ich denke ja immer, dass sich meine Sachen doch einstmals durchfressen werden. Ich erlebe es ja nicht mehr. Macht nichts. Weiter und weiter ist meine Devise. Mit der auch schließt – Dein Max.“

Die Musikbeispiele der Sendung sind auf der Sendungsseite nachlesbar. Ein Anhören dieser „Thema Musik“-Folge ist nur noch (Stand 24.5.16) per kostenpflichtiger Bestell-CD möglich.

„Der Fall Reger muss chronisch werden!“

Max Reger zum 100. Todestag

Von Almut Ochsmann
Im O-Ton: Susanne Popp, Markus Becker, Frauke May, Alexander Becker
Sprecher: Almut Ochsmann, Sebastian Mirow, Nadine Kettler
SWR 2016

SWR2, Reihe: Thema Musik
11. Mai 2016, 20.03 Uhr, 57 min.